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Der Stadtteil Berg mit dem ehemaligen Mühlkanal war über Jahrhunderte hinweg ein wichtiger Standort verschiedener Mühlen und technischer Einrichtungen zur Nutzung der Wasserkraft.

Der Berger „Mühlgraben“ war etwa 1,7 Kilometer lang, wobei die Mühlen und übrigen Wassertriebwerke sich ungefähr in seiner Mitte unterhalb der Berger Kirche konzentrierten. Vermutlich handelte es sich um einen natürlichen Altarm des Neckars. Als man mit dem Betrieb von Mühlen begann, nutzte man offenbar die gegebenen Geländeverhältnisse und leitete einen Teil des Neckars in die vorhandene Vertiefung, dem „Mühlkanal“. Später wurde der kontrollierte Wasserfluss auch für den Floßverkehr benutzt. Den Landstreifen dazwischen nannte man die „Berger Insel“. Allgemein wurden Nebenarme von Flüssen als natürliche Betriebskanäle für Mühlen benutzt. Theoretisch erhielt man ein umso größeres Arbeitsgefälle an den Wasserrädern, je länger der Kanal war. Wenn die Grasinsel zwischen Nebenarm und Hauptstrom sich eignete, konnte man auf diesem „Wörth“ später weitere Wassertriebwerke anlegen. Ein Beispiel hierfür ist die Cannstatter „Fabrik auf dem Mühlgrün“.

Eine der ältesten Mühlen am Berger Kanal war die sogenannte Hintere Mühle, die seit 1304 bezeugt ist und sich am Standort des heutigen Wohnhauses „Am Mühlkanal 5“ befand. 1860 wurde an ihrer Stelle ein staatliches Pumpwerk eingerichtet, welches Neckarwasser in Filterbassins an der Werastraße hinter der Alten Staatsgalerie beförderte. Von dort wurden die Anlagenseen und Springbrunnen, die öffentlichen Ventilbrunnen und staatliche Gebäude wie der Hauptbahnhof mit Wasser versorgt. Doch reichte die Wasserkraft allein nicht aus, und nur wenige Jahre nach Inbetriebnahme musste ein Dampfmaschinenhaus angebaut werden. Direkt an die Hintere Mühle war eine staatliche Gipsmühle angebaut, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts vorzugsweise die Baustelle des Neuen Schlosses in Stuttgart belieferte. Streng genommen handelte es sich nur um eine Gipsstampfe für Baugips, der für gehobene Ansprüche – etwa der Ludwigsburger Porzellanmanufaktur – ungeeignet war.

Direkt auf der anderen Seite des Kanals, an der heutigen Poststraße, befand sich die sogenannte Vordere Mühle, die 1456 unter Graf Ulrich dem Vielgeliebten erbaut worden war. Nach einem Brand 1613 wurde sie durch Hofbaumeister Heinrich Schickhardt umgehend wiederaufgebaut. Angebaut an die Kornmühle war eine Weißgerberwalke, eine Art Stampfe zur Bearbeitung von Tierhäuten. Als ab 1878 die wassergetriebene Pumpstation des städtischen Wasserwerks gebaut wurde, musste auch die Vordere Mühle die Hälfte ihrer Wasserkraftnutzungsrechte hierfür abgeben, und drei ihrer Einläufe für die sechs Wasserräder wurden zugemauert. Im Jahr 1923 schließlich, als das Gebäude von dem Sauerstoff- und Stickstoffwerk Kraiß & Friz übernommen wurde, hörte die Getreideverarbeitung an diesem Standort endgültig auf. Das noch vorhandene stattliche Mühlgebäude brannte im Zweiten Weltkrieg bis auf die Umfassungsmauern und den Giebel aus, konnte jedoch wieder instand gesetzt werden. Obwohl das Gebäude unter Denkmalschutz stand, wurde es im Jahre 1956 abgerissen.

Ein kleines Stück weiter oben an einem Nebenarm des Berger Kanals hatte Graf Eberhard im Bart 1492 eine Sägemühle errichten lassen. An diesem Standort wurden im Laufe der Zeit verschiedenste Einrichtungen betrieben, einige von ihnen auch gleichzeitig miteinander: eine Gewürzmühle, eine Blauholzstampfe zur Gewinnung von Färbemitteln, eine Tabakstampfe, eine Mosterei, eine Hanfreibe für den Bedarf des Seilergewerbes und eine Mühle für Welschkorn (Mais). Ab 1832 kam hier ein staatlicher Eisenhammer zum Einsatz, dessen Produkte jedoch nicht konkurrenzfähig waren. Ab 1852 befand sich auf dem Anwesen auch eine Dampfmaschine. Der große Aufstieg des Standorts begann 1860, als der Ingenieur Adolf Hildt aus Weinsberg hier seine später zur Weltfirma aufsteigende Maschinenfabrik Hildt & Mezger gründete. Unter Benutzung von Wasserkraft wurden nun über einen Zeitraum von 100 Jahren hinweg Dampfmaschinen, Brückenteile und Fabrikeinrichtungen gefertigt.

Ab 1621 konstruierte Heinrich Schickhardt am Berger Mühlkanal wassergetriebene Anlagen für die staatliche Münze, nämlich einen Schmelzofen und das Streckwerk zum notwendigen Schmälern der Metallstäbe an der Stelle, die der heutigen Poststraße 38 entspricht. Die eigentliche Prägestätte fand für einige Jahre im angrenzenden, später als „Schiff-Wirtshaus“ bekannten Gebäude Platz. Nebenan wurde in einem Vorgängerbau (heute Poststraße 36) ab Mitte des 16. Jahrhunderts eine Schleifmühle und kurzzeitig auch eine Edelsteinschleiferei betrieben.

Der staatliche Kupferhammer in Berg ging in seinen Ursprüngen auf das 17. Jahrhundert zurück. Er besaß zusammen mit zwei ähnlichen Anlagen in Tübingen und Freudenstadt ein landesweites Monopol. Das bedeutete, dass alle württembergischen Kupferschmiede und Hafner ihr Material gegen feste Preise hier beziehen mussten.

Ein weiteres Triebwerk am Berger Mühlkanal war die Papiermühle. Sie wurde Ende des 17. Jahrhunderts mit staatlicher Unterstützung durch einen Stuttgarter Buchhändler erbaut. Der Pächter hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Lumpensammelmonopol für das gesamte Herzogtum. Die Hadern wurden in einem teils schon automatisierten Prozess zu Papier verarbeitet. Die Berger Papiermühle erwies sich jedoch schon nach einigen Jahrzehnten als unrentabel und wurde in eine Getreidemühle umgewandelt.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Seidenherstellung im Herzogtum zu etablieren, war um 1735 in Stuttgart eine „Privilegierte Seidenfabrik“ durch einen französischen Glaubensflüchtling gegründet worden. Trotz Steuererleichterungen, Zollfreiheit und Marktmonopol galt der Manufakturbetrieb nach wenigen Jahren als gescheitert und musste samt allen zugehörigen Maulbeerpflanzungen im gesamten Herzogtum verkauft werden. Für das Nachfolgeunternehmen wurden 1750 die herzoglichen Privilegien erneuert. Nun wurde am Berger Mühlkanal eine Seidenspinnerei, ein sogenanntes Filatorium, in Betrieb genommen. Schon seit dem Spätmittelalter waren wassergetriebene Seidenzwirnmaschinen bekannt, in denen mehrere Hundert Spindeln gleichzeitig rotierten und die somit gegenüber der traditionellen Handfertigung einen enormen Zuwachs an Produktivität brachten. Die Berger Seidenspinnerei stellt damit ein sehr frühes Beispiel für einen Großbetrieb mit Teilautomatisierung in der Region dar. Auch dieses Unternehmen musste 1772 aufgegeben werden, es hatte unter ausländischer Konkurrenz und Fehlern in der Betriebsführung gelitten. 1805 wurde die Anlage dann Teil der Lederfabrik Faber & Co. Nun wurden hier Maschinen zur Gewinnung der sogenannten Gerberlohe aus Baumrinde betrieben, dazu gehörten ein Rindenschneider und eine Lohmühle. Dieses Unternehmen hatte bis 1840 Bestand und wurde dann verkauft. Das Gebäude Poststraße 44 ist danach noch vielfältig benutzt worden und dient heute als Wohnhaus.

Eine entscheidende Neuerung in der Getreidemüllerei stellten die „Amerikanischen Mühlen“ oder „Kunstmühlen“ dar. Die landesweit erste dieser Anlagen mit weit fortgeschrittenem Mechanisierungsgrad und daher auch viel größerer Kapazität wurde 1830 neben der Vorderen Mühle anstelle des Kupferhammers, der Papiermühle und der Weißgerberwalke in der heutigen Poststraße 34 errichtet, was die Entwicklung hin zum Großbetrieb am Beginn der Industrialisierung augenfällig macht. Die jeweils zugehörigen Wassernutzungsrechte wurden für die neue Nutzung vereinigt. Für den Betrieb der Kunstmühle hatte man innerhalb des Gebäudes in ca. 40 Meter Tiefe einen kleinen Brunnen erbohrt, dessen ganzjährig gleichmäßig temperiertes Wasser die Mühlräder im Winter eisfrei halten sollte. Diese im Prinzip uralte Technik wurde ab ca. 1830 in Cannstatt und Berg vielfach angewandt, führte jedoch zu einem deutlichen Nachlassen der natürlichen Mineralquellen und schadete den bereits erbohrten Quellen, sodass weitere private Bohrungen behördlich bald untersagt wurden. Die Berger Kunstmühle blieb weniger als 50 Jahre am Ort. Ersetzt wurde sie durch die Pumpstation des städtischen Wasserwerks. Diese Anlage wurde bis 1881 auf einem Betonfundament über 831 in den Boden gerammten Holzpfählen errichtet, gleichzeitig mit dem Gebäude Poststraße 43, das zwei große Dampfmaschinen, die vier Kolbenpumpen antrieben, beherbergte. Die Anlage wurde 1894 erweitert. Die Dampfkraft sollte die Spitzenlast sowie Phasen der Wasserknappheit abdecken. Das Neckarwasser wurde in einen Hochbehälter auf dem Ameisenberg gepumpt.

Seit den 1820er Jahren versuchten an dem sogenannten Sauerbrunnen-Graben im Unterwasser der großen Mühlen verschiedene Unternehmer ihr Glück. 1833 wurde eine Mineralwasserquelle erbohrt. Der letzte dieser Fabrikanten richtete 1839 unmittelbar neben seiner Maschinenfabrik zusätzlich eine Badeanstalt ein, die ab 1851 von Ludwig Friedrich Karl Leuze übernommen und ausgebaut wurde. Das benachbarte Mineralbad Berg geht auf eine Getreidemühle zurück, die jedoch nicht den Neckarkanal, sondern den in der Nähe einmündenden Nesenbach nutzte. Die zuerst im 15. Jahrhundert genannte „Bahnmühle“ war zugleich ein ansehnlicher Wirtschaftshof, zu dem auch ein Tanz- und Spielplatz gehörte. 1810 errichtete der Stuttgarter Kaufmann Friedrich Karl Bockshammer in diesen Gebäuden eine mechanische Baumwollspinnerei. Die Spinnmaschinen waren einem eingeschmuggelten englischen Exemplar nachgebaut worden. In dem prosperierenden Unternehmen arbeiteten zeitweise 190 Personen an 80 Maschinen mit zusammen 3.660 Spindeln. 1855 wechselte der Betrieb den Besitzer, um 1875 wurde er stillgelegt. Auch hier wurden kurz nach 1830 in ca. 30 Meter Tiefe fünf Brunnen erbohrt und der Spinnerei als Antriebswasser zugeleitet. Ab 1855 wurde das Wasser von Werkmeister Karl Heimsch und Kunstgärtner Friedrich Neuner zusätzlich genutzt, um das Becken ihres neuen Mineralbades zu füllen. Auch heute noch kennen viele Alteingesessene das Mineralbad Berg unter dem Namen „Neuner“.
Die in Berg konzentrierten Industrieanlagen entwickelten sich über fast 200 Jahre weg von kleinteiligen Strukturen hin zu Großanlagen. Die letzte Stufe in dieser Entwicklung war die Zusammenfassung sämtlicher Berger und der in der Größenordnung vergleichbaren Cannstatter Wasserkräfte im Kraftwerk Rosenstein. Die gebündelte Wasserkraft konnte fortan mittels Elektrizität viel effektiver eingesetzt werden, nicht zuletzt entschädigte man mit ihr die vom Trockenfallen des alten Berger Mühlkanals betroffenen, ehemals wassergetriebenen Anlagen.

Text: Achim Bonenschäfer
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Literaturhinweise:

Achim Bonenschäfer, Die Mühlen im Stadtkreis Stuttgart (Mühlenatlas Baden-Württemberg, Bd. 6), Remshalden 2015.
Achim Bonenschäfer, Stuttgarter Wasserkräfte und die Industrialisierung im Mittleren Neckarraum, Ubstadt-Weiher 2016.
Ernst Brösamlen, Das schöne Stuttgart-Berg, Stuttgart 1939.
Ulrich Gohl, Gesichter ihrer Zeit. Unbekannte Stuttgarter Bau- und Kulturdenkmale, Tübingen/Stuttgart 1992.
Franz Eberhard/Friedrich Grundler, Beschreibung der neuen Getreide-Mühle zu Berg bei Stuttgart: mit Zeichnungen in 6 besondern Beilagen, Stuttgart 1837.
Ulrich Klein, Numismatisches bei Heinrich Schickhardt, in: Neue Forschungen zu Heinrich Schickhardt, hg. von Robert Kretzschmar, Stuttgart 2002, S. 51-77.
Ulrich Klein/Albert Raff, Die württembergischen Münzen: ein Typen-, Varianten- und Probenkatalog, 3 Bde., Stuttgart 1991-1993.
Walter Meyer-König, Stuttgart und das Wasser. Geschichte der Stuttgarter Wasserversorgung, hg. von den Technischen Werken Stuttgart, Stuttgart 1983.
Frieder Schmidt, Von der Mühle zur Fabrik. Die Geschichte der Papierherstellung in der württembergischen und badischen Frühindustrialisierung (Schriften des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim, Bd. 6), Ubstadt-Weiher 1994.
Gustav Wais, Alt-Stuttgart. Die ältesten Bauten, Ansichten und Stadtpläne bis 1800, Stuttgart 1954.

Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Achim Bonenschäfer, Mühlgraben in Berg, publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/0e394247-625d-424c-a38b-8bf482775f29/Muehlgraben_in_Berg.html