„Winter-Bayreuth“ bezeichnet die 16 Regiearbeiten, die Wieland Wagner zwischen 1954 und 1966 an der Staatsoper Stuttgart ausführte. Es ist das Pendant zu dem Begriff „Neu-Bayreuth“, der für den notwendigen politischen und ästhetischen Neuanfang der Festspiele unter der Leitung der Brüder Wieland und Wolfgang Wagner am Grünen Hügel ab 1951 stand. Die Probenarbeiten in Bayreuth starteten in der Regel alljährlich im Mai, die Aufführungen fanden im Lauf von vier Wochen ab Ende Juli statt. Nach den üblichen Theaterferien ergab sich so ein winterliches Zeitfenster von Oktober bis April, das die Geschwister für Gastinszenierungen nutzen konnten.
Ein Angebot für eine solche Gastinszenierung erhielt Wieland Wagner im November 1952 von dem Stuttgarter Generalintendanten Walter Erich Schäfer, den er bereits durch die Verhandlung zur Freistellung von Stuttgarter Sängerinnen und Sängern für die Festspiele kannte und schätzte. Schäfer gab dem Wagner-Enkel „jede Freiheit“ eine „Paraphrase von Bayreuth“ oder gerne auch einmal „nicht von Richard Wagner“ zu inszenieren. Stuttgart hatte zu diesem Zeitpunkt das einzige nicht bombenkriegszerstörte große Opernhaus im süddeutschen Raum. Auch war Wielaand Wagner durch seine Festspiele die musikalische Qualität des Ensembles bereits bekannt. Die Starsopranistin Martha Mödl und der Heldentenor Wolfgang Windgassen gehörten dem Haus an und hatten bereits Erfolge am Grünen Hügel gefeiert. Wagner nahm Schäfers Angebot für die Spielzeit 1954 an – „Winter-Bayreuth“ war geboren.
Wieland Wagners Wahl für sein Stuttgart-Debüt fiel auf Ludwig van Beethovens (1770-1827) „Fidelio“ (1805/1814), lag doch dessen Uraufführung der letzten Fassung am Wiener Kärtnertortheater gerade 140 Jahre zurück. Auch galt Beethoven als unmittelbarer Vorläufer Richard Wagners, die singspielhafte Nummernoper war die einzige des Bonner Komponisten überhaupt: In dem frühbürgerlichen Ideendrama siegen Liebe und Freiheit über Hass und Unmenschlichkeit. Jahrelang rang Beethoven damit, welche Form die Oper haben sollte – am Ende schrieb er allein vier Ouvertüren. Auch hatte er mit der schwierigen Textvorlage von Joseph Sonnleithner (1766-1835) mit ihren langatmigen Sprecheinlagen zwischen den Musikstücken zu kämpfen.
Mitte 1954 kam Wagner nach Stuttgart und brachte ein Bühnenbild für den „Fidelio“ mit. Schäfer beschrieb in seinen Erinnerungen, wie den anwesenden Theaterleuten der Atem stockte, als der Gastregisseur die Revolution aus seinen Taschen holte und die Inszenierungspläne erläuterte: Wieland Wagner brachte an diesem Tag die neuartige zentrale Scheibe, die er bereits seit 1951 in „Neu-Bayreuth“ einsetzte, mit an den Neckar. Auch sonst war die Bühne von Geometrie geprägt: Vor einem schwarzen Rundhorizont lag die graue Scheibe flankiert von mächtigen braunen Gittern. Erst diese klare Bühnendisposition öffnete den Raum für Beethovens Musik (und Text), Licht und Farbe unterstützten deren Wirkung. Wagners Ziel war es, dadurch das innere Wesen des Werkes freizulegen.
Die Schwierigkeiten des „Fidelio“ ging Wieland Wagner radikal an: Er löste Beethovens Freiheitsmusik aus der Gefangenschaft der Dialoge. Diese wurden ersetzt durch drei erklärende Monologe, die Generalintendant Schäfer schrieb und während der abgedunkelten Aufführung in einem Lichtkegel stehend sprach. Die einzelnen Nummern wurden durch gestisches Agieren der Protagonisten miteinander verbunden, während des Gesangs blieben die Akteure vollkommen statisch an ihren Plätzen. Sie wurden ihrer Bedeutung und ihres Charakters entsprechend positioniert – mal mittig in gleißendem Licht (Leonore), mal seitlich (Marzellina) oder am dunklen Rand (Pizarro). Diese Positionierung entsprach nicht nur ihrem Seelenleben, sie korrespondierte auch mit der ihnen zugewiesenen archetypischen Bedeutung (Leonore = Liebe; Marzellina = Spiegel-/Nebenhandlung; Pizarro = Despot). Dieser für Wieland Wagner typischen psychologischen Ausdeutung (nach Carl Gustav Jung) folgte auch die Kostümierung: Leonore trug einen hellen Anzug, Pizarro einen schwarzen Mantel mit roten Aufschlägen, der Minister Don Fernando kam in einem Priestergewand daher als institutionalisierte Humanität.
Wagner nutzte die bequemen Probenmöglichkeiten, die der festangestellte Chor der Staatsoper im Gegensatz zum kurzfristig zusammengestellten Chor der Festspiele bot. In einer aufwendigen Choreografie ließ er den als graue, roboterhafte Masse gestalteten Männerchor sich langsam und geführt von Lichtbrücken (1. Akt „Oh welche Lust, die freie Luft“) zwischen den Gittern bewegen. Während des Duetts „O namenlose Freude“ fiel ein Zwischenvorhang, der die Aufstellung des zartgelb gekleideten Frauenchores verdeckte. Im Finale des 2. Aktes („Heil sei dem Tag, Heil sei der Stunde“) schwanden blitzschnell die Gitter und Vorhänge, die Chöre vermischten sich, umgaben zuletzt die Hauptpersonen auf der Scheibe: vorn Leonore in einer Diagonalen mit Florestan und Don Fernando im Licht der Freiheit, ihnen gegenüber Pizarro (im Bild nicht sichtbar) in gedämpfter Stimmung als Zeichen der Niederlage, Marzellina und Rocco am Rand. Auf Anregung des Stuttgarter Generalmusikdirektors Ferdinand Leitner nutzte Wagner die Ouvertüre der Uraufführung („Leonore“, Nr. 2). Was blieb war ein vereinheitlichtes Oratorium nach dem Vorbild des griechischen Dramas – die Kritiker waren von dem „Versuch“ begeistert, das Publikum zunächst skeptisch.
Mit den 15 weiteren Arbeiten an der Staatsoper konnte Wieland Wagner auch die letzten Zweifler erreichen. Unter den Inszenierungen fand sich als erste Oper seines Großvaters „Das Rheingold“ am 24. November 1955. Darauf folgten sogenannte „Generalproben“ („Rienzi“ 1957), bei denen ausdrücklich für Bayreuth ausprobiert wurde, und mehrere Musterinszenierungen („Elektra“ und „Salome“ 1962), die anderenorts ähnlich auf die Bühne gebracht wurden. Besonders spannend an seinen Stuttgarter Arbeiten war, dass sie Teil der „Werkstatt“ Bayreuth waren, in der er versuchte, die Werke der Vergangenheit mit einer Bedeutung für die Gegenwart auszufüllen. So ließ sich an ihnen die ganze Bandbreite einer sich immer weiter verdichtenden Bühnensprache aus reduzierter Geometrie, christlich-abendländischer oder griechisch-antiker Symbolik ablesen.
Als ein besonderes Aushängeschild der Staatsoper Stuttgart wurden Wieland Wagners Inszenierungen zu verschiedensten Anlässen genutzt, wie z.B. zur Wiedereröffnung des umgebauten Opernhauses („Götterdämmerung“ am 28. Oktober 1956), zur 50-Jahr-Feier („Tannhäuser“ am 14. Oktober 1962) und als Botschafter bei Gastspielen im Ausland, z.B. als Kulturbeitrag der Bundesrepublik auf der Weltausstellung in Brüssel („Antigonae“ 1958). In der Ära Schäfer katapultierten progressive Inszenierungen und musikalische Qualität die Staatsoper an die Weltspitze. Entscheidenden Anteil an dem in diesen Jahren entstandenen „Stuttgarter Stil“ hatte das Ensemble um Mödl, Windgassen, Leitner und John Cranko genauso wie die Inszenatoren Günther Rennert und Wieland Wagner. Stilprägend wurde durch sie das Herauslösen eines Werkes aus seiner Zeit und die Übertragung seiner psychosozialen Inhalte in die Gegenwart. Dabei kam es weniger auf ein einheitliches Erscheinungsbild an, sondern es ging vielmehr darum, Offenheit für Vielfalt herzustellen.
Elf Jahre nach dem „Fidelio“ war Alban Bergs „Lulu“ (1937) Wieland Wagners letzte Inszenierung in Stuttgart und gleichzeitig die erste seiner Arbeiten, die durch das ZDF in Farbe aufgezeichnet wurde. Am 17. Oktober 1966 starb er 49-jährig überraschend in München. Kurz nach seinem Tod wurde der Aussichtpunkt an der Richard-Wagner-Straße unterhalb der Villa Reitzenstein nach ihm benannt. Im Oktober 2021 erfolgte im Rahmen der Feierlichkeiten zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ die Umbenennung in Heinrich-Heine-Höhe. Für Wieland wie für den Großvater Richard Wagner gilt gleichermaßen der Satz aus Wieland Wagners Aufsatz „Denkmalschutz für Wagner“: „Nur die geistige Aussage eines Werkes, nicht seine zeitbedingte Aufführungsform hat für zukünftige Generationen Bedeutung und sichert ihren Bestand.“