Der am 5. November 1928 nach Plänen von Ernst Otto Osswald eröffnete Tagblatt-Turm gilt als das erste in Sichtbeton errichtete Hochhaus in Deutschland. Mit der Weißenhof-Siedlung und dem Kaufhaus Schocken steht er für eine Epoche der Stadtbaugeschichte.

Das Stuttgarter Neue Tagblatt gehörte in den 1920er Jahren zu den größten Zeitungen Süddeutschlands mit einer Auflage von mehr als 70.000 Stück bei zwei täglichen Ausgaben. Der bis dahin wenig bekannte Stuttgarter Architekt Ernst Otto Osswald (1880-1960) erhielt 1924 von seinem Freund Carl Esser, dem Generaldirektor der Zeitung, den Auftrag zur Erweiterung der Druckereigebäude sowie der dazugehörenden Redaktionsräume.

Die Idee, ein Hochhaus zu bauen, ergab sich vor allem aus den räumlichen Zwängen, da die Zeitung lediglich das kleine Grundstück Eberhardstraße 61 erwerben konnte. Dabei kam Osswald die durch die Studie „Hochhäuser für Stuttgart“ der Architekten Richard Döcker und Hugo Keuerleber von 1921 ausgelöste Debatte zugute. Denn alle Sachverständigen waren sich darin einig: Wenn ein Ort in Stuttgart in städtebaulicher Hinsicht für ein Hochhaus geeignet war, dann der Kreuzungspunkt zwischen Eberhard- und Torstraße, an dem sich der Straßenraum weitete und die abknickende Eberhardstraße einen Schlusspunkt erhielt.

Die Funktionalität des Bauwerkes und der arbeitstechnische Ablauf waren für Osswald erstes Kriterium der Entwurfsfindung. Da er die Geschosse als „leere“ Plattformen plante, die nur durch leichte Glaseinbauten unterteilt wurden, war er in der Gestaltung der Fassaden relativ frei von inneren Vorgaben. Lediglich die Lage für Treppenhaus, Aufzüge (ein Schnellaufzug und ein Paternoster) und Toilettenräume musste festgelegt werden. Osswald entschied sich für einen L-winkeligen Grundriss, der erst im hinteren Teil, im Anschluss an das Gebäude der Torstraße 29, breiter wird und den Hof teilweise überbaut.

Das erste Baugesuch wurde am 3. März 1926 eingereicht; geplant waren 16 Vollgeschosse mit einer Gesamthöhe von 55,80 Metern. Die Kostenschätzung lag 1925 bei etwa 670.000 Mark inklusiver aller Ausbauten, Aufzüge, Heizungen und Architektenhonorare.

In der Bauabteilung des Gemeinderates entstand eine vielschichtige Diskussion. Der Gemeinderat war sich der Bedeutung dieses Bauwerks als erstem Hochhaus in Stuttgart durchaus bewusst. Die Bauordnung sah damals für die Torstraße eine maximale Gebäudehöhe von 20 Metern beziehungsweise fünf Vollgeschosse vor; der Umgang mit den nötigen Befreiungen bzw. neuen Richtlinien sollte nicht leichtfertig erfolgen, um weiteren Hochhäusern entsprechend begegnen zu können. Der gesamte Entscheidungsprozess war ein Ausloten der Möglichkeiten – immer mit dem Blick in die Zukunft, was getroffene Entscheidungen für das städtische Bild Stuttgarts bedeuten könnten.

Das Stadtbild hatte frühere dominante Punkten verloren. Denn durch die Bebauung der Hanglagen und der insgesamt höheren Bauweise ragten die innerstädtischen Kirchtürme und der neue Bahnhofsturm optisch nur wenig aus der dichten Dachlandschaft hervor. Umso mehr wurde die Bedeutung des Tagblatt-Turms als Orientierungspunkt für die Stadt betont. Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, beschritt die Bauabteilung des Stadterweiterungsamtes Stuttgart einen ungewöhnlichen Weg und beauftragte die Architekten Paul Bonatz, Hugo Keuerleber und Heinz Wetzel mit einem Ideenwettbewerb als Gutachten zur Verbesserung und Ergänzung des Osswaldschen Entwurfs. Eine Sachverständigenkommission kam ebenso wie Richard Döcker zu dem Ergebnis, dass keiner der geladenen Architekten dieser Aufgabe gerecht geworden sei.

Um die andauernden Diskussionen über die Gebäudehöhe zu beenden, war der Tagblatt-Verlag im November 1926 bereit, zugunsten einer zügigen Genehmigung auf zwei Geschosse zu verzichten. Im neuen Entwurf endeten die Vollgeschosse in einer Höhe von 49,30 Metern, die zurückgesetzten Halbgeschosse bei 53,80 Metern.

Der Gemeinderat stimmte in öffentlicher Sitzung nach langen Diskussionen um das Für und Wider von Hochhausbauten mit 33 zu 22 Stimmen zu. Am 15. Februar 1927 wurde die Genehmigung für ein Hochhaus in Eisenbeton mit 15 Voll- und 2 Halbgeschossen erteilt. Als Material für die Außenfassaden wurde eine gestockte Betonoberfläche aus einem Porphyrschotter- und Rheinkiesgemisch vorgeschlagen, wodurch ein heller, warmer Farbton der Oberflächen erzielt werden sollte. Die Fensterpfeiler waren aus hart gebranntem, hellem Backsteinmauerwerk vorgesehen. Der veranschlagten Baukosten lagen nun bei etwa 800.000 Mark.

Der Baugrund erwies sich als Herausforderung: Probebohrungen ergaben in acht Metern Tiefe fließendes, sehr gipshaltiges Grundwasser; außerdem fanden sich große Mengen Schlammablagerungen vom ehemaligen Stadtgraben. Die Bodenbeschaffenheit in den verschiedenen Bereichen des Grundstücks war so unterschiedlich, dass eine Pfahlgründung geplant werden musste. Die Pfähle sollten auf einer in elf Metern Tiefe liegenden, tragfähigen Kiesschicht stehen. Die eigentlichen Bauarbeiten begannen am 16. April 1927 und nach vier Monaten war die Pfeilergründung bis unter eine 1,50 Meter dicke Eisenbetonbodenplatte fertiggestellt.

Im August 1927 wurde ein Nachtragsbaugesuch zur Anbringung der Lichtreklame eingereicht. Außerdem sollten nun doch Balkone als zweite Rettungswege ab dem achten Obergeschoss angebracht werden und die Fensterpfeiler mussten aufgrund der veränderten Fundamente Lasten tragen; sie sollten deshalb, statt wie bisher als Mauerwerk geplant, auch in Eisenbeton ausgeführt werden. Zur Gliederung der Fassade sollten diese Pfeiler aus schwarzgrauem, geschliffenem Eisenbeton mit Basalt und Rheinsand als Zuschlagstoffe bestehen.

Im November 1927, als durch den Baufortschritt die Wirkung des Turmes schon erkennbar wurde, beantragte Osswald die Genehmigung eines weiteren Vollgeschosses und einen höheren Aufbau für die Unterbringung der Aufzugsmaschinen. Der Fortgang der Bauarbeiten war die beste Werbung und so wurde die Gesamthöhe von 61 Metern rasch genehmigt.

Am 17. März 1928 war der Rohbau fertiggestellt. Gleichzeitig mit dem Betonieren der oberen Geschosse begann unten schon der Einbau der leichten Glastrennwände, der Installationen und elektrischen Anlagen. Eine Vollendung des Entwurfs entstand durch die Planung der Konturenbeleuchtung, der sogenannten Moorelichtanlage in hellrosa, die im Mai 1928 genehmigt worden war.

Am 5. November 1928 wurde der Tagblatt-Turm eingeweiht. Ernst Otto Osswald führte in seiner Rede, abgedruckt in der Festschrift, wie folgt durch sein Gebäude: „Betreten wir nun das fertige Haus durch den Haupteingang von der Eberhardstraße, so fällt unser Blick zuerst durch große Glasscheiben in die geräumige Schalterhalle, die durch ihre übersichtliche Anordnung dem Publikum klar seinen Weg weist. […] An der Portierloge vorüber gelangt man im hinteren Teil des Eingangs zum Schnellfahrstuhl und zum Paternoster-Aufzug für die Personenbeförderung bis zum 15. Obergeschoss. […] Hier im Erdgeschoss stehen auch eine Telefonzelle und ein Briefkasten der Reichspost für den allgemeinen Gebrauch zur Verfügung. Das erste Obergeschoss enthält die nunmehr erweiterten Direktionsräume. Im zweiten bis fünften Obergeschoss bekommen die Redaktion, die Werbeabteilung und die Hauptbuchhaltung eine Erweiterung. […] Die Obergeschosse 6 bis 13 stehen für andere Erweiterungszwecke zur Verfügung. Das 14. und 15. Obergeschoss endlich soll eine kleine Presseausstellung aufnehmen und einschließlich der Plattformen dem Publikum später allgemein zugänglich gemacht werden.“ Das Gebäude war also nach modernsten Maßstäben eingerichtet mit Warmwasserheizung, Doppelfenstern, Müllabwurfschacht und Briefkastenabwurfschacht direkt in den Kasten der Reichspost im Foyer.

Den Zweiten Weltkrieg hat der Tagblatt-Turm relativ unbeschadet überstanden; lediglich im Schacht des Schnellaufzuges landete ein Blindgänger. Osswald selbst leitete und überwachte die Reparaturarbeiten. Am 3. Dezember 1946 schrieb die Stuttgarter Zeitung, die die Räume des 1943 eingestellten Neuen Tagblatts übernommen hatte: „Heute wird auf der Plattform des Tagblatt-Turms der Weihnachtsbaum aufgestellt. Ein Riese von 16 Metern Länge aus dem Rotwild-Park. Die alte Tradition lebt wieder auf. Die Stuttgarter Bevölkerung hat sich im Laufe der Jahre an dieses christfestliche Wahrzeichen gewöhnt; es weihnachtet, wenn auf dem Tagblatt-Turm der Lichterbaum brennt.“

Die Zeitung blieb bis 1976 in den Räumen an der Eberhardstraße, ehe sie in das neue Pressezentrum nach Möhringen zog. Eine ungewisse Zeit begann für den Tagblatt-Turm mit Diskussionen und Plänen für Abriss, Reduzierung und Umnutzung. 1978 wurde er unter Denkmalschutz gestellt. Die Stadt kaufte den Tagblatt-Turm 1979 und baute die Druckereigebäude als Kulturzentrum „Kultur unterm Turm“ aus.

Infolge der steigenden Luftverschmutzung in den 1960er und 70er Jahren und der damit verbundenen Schädigung der Betonoberflächen wurde 1977/78 die Fassade des Tagblatt-Turmes erstmals gereinigt und instandgesetzt. Doch im Jahr 2001 ergab eine erneute Untersuchung, dass der Schutzüberzug von 1978 weitgehend abgewittert und eine umfassende Sanierung notwendig war. Also wurden die Reste der ersten Instandsetzungsmaterialien entfernt und die gesamte Fassade ab dem zweiten Obergeschoss mit einem dehnfähigen Oberflächenschutzsystem versehen. Im November 2003 war die Renovierung des Turmes abgeschlossen.

Eine weitere Sanierung fand 2015 statt: Die mehr als 360 Fenster des Turms und der angeschlossenen Gebäude des Ensembles mussten denkmalgerecht erneuert, ebenso sollten die Flachdächer energetisch ertüchtigt werden. Zusätzlich wurde die Konturenbeleuchtung, die 2005 aus etwa 350 Metern Lichtfaserleitung angebracht worden war, durch moderne LED-Technik ersetzt.

Seit Mai 2004 nutzen fünf Kultureinrichtungen die Räume der ehemaligen Druckerei und des Turmes: das Zentrum für Figurentheater FITZ, das Theater tri-bühne, Junges Ensemble Stuttgart JES, der Museumspädagogische Dienst mu*pä*di (jetzt kubi-S) der Stadt und die Jugendkunstschule JuKuS. Im Turm selbst finden sich neben verschiedenen städtischen Einrichtungen auch das Kundencenter der Stadtwerke, ein Architekturbüro sowie weitere Mieter. Und in die umgebaute Schalterhalle der Zeitung sind inzwischen Geschäfte eingezogen.

Text: Petra Ralle
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Archiv des Architekturmuseums der TU München, Nachlass Ernst Otto Osswald

Literaturhinweise:

Die Bauzeitung, XXV. Jahrgang, 1928, Heft 49, S. 499-504, „Das höchste Hochhaus Süddeutschlands“.
Deutsche Bauzeitung 1926, Nr. 80, S 141: „Engerer Wettbewerb Stuttgarter Neues Tagblatt“.
Deutsche Bauzeitung 1926, Nr. 84, S. 145: „Engerer Wettbewerb Stuttgarter Neues Tagblatt“ 1.

GND-Identifier: 7651423-7
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Petra Ralle, Tagblatt-Turm, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/57a7101c-1ebf-471b-a0c0-d141bb954200/Tagblatt-Turm.html