Joseph Egle wurde am 23. November 1818 im oberschwäbischen Dellmensingen geboren und wuchs dort in einfachen Verhältnissen auf. Nach einer Schlosserlehre besuchte er 1832 bis 1838 die Gewerbeschule in Stuttgart. Es folgten Studienaufenthalte am Polytechnikum in Wien (1838/39) und an der Bauakademie in Berlin (1839-1841). Als Korrespondent der Allgemeinen Bauzeitung (1842-1847/48) führten ihn Reisen durch Deutschland, Österreich, Frankreich und England. 1847/48 hielt er sich längere Zeit in Italien auf. Die bei alldem gewonnenen Eindrücke verschafften ihm nicht nur fundierte Kenntnisse über die Architektur der Antike, der Gotik und der Renaissance, sondern auch über die zeitgenössische Architektur in London, Paris, Wien, Berlin, Hamburg, Dresden oder München.
Im Revolutionsjahr 1848 ließ sich Egle in Stuttgart nieder. Im Jahr davor hatte er in der Rotebühlstraße 47 das (längst wieder verschwundene) Haus Wieland/Reichart errichtet, mit dem er für erstes Aufsehen sorgte: Er wandte erstmals bei einem Privatgebäude in Stuttgart die Massivbauweise an. Vielleicht führte dies dazu, dass man ihm trotz geringer Baupraxis 1848 die Leitung der Baugewerkeschule, an der unter anderem Lehrlinge des Bauhandwerks weitergebildet wurden, übertrug, die er bis 1893 innehatte. Durch seine Fähigkeiten wurde die Schule zu einer mustergültigen Einrichtung auf europäischem Niveau. 1850 folgte die Berufung ans Polytechnikum, wo er bis 1857 wirkte. Schon durch seine Lehrtätigkeit hat Egle das Baugeschehen im Württemberg der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitgeprägt.
1852 war er an der Gründung des Vereins für christliche Kunst der Diözese Rottenburg beteiligt. Sein Einfluss auf den katholischen Kirchenbau in Württemberg nahm hier seinen Anfang. Mit der Berufung zum Mitglied der Münsterbaukommission in Ulm 1854 begann Egle, sich auch auf dem Feld der Kirchenrestaurierungen zu betätigen. 1857 ernannte ihn König Wilhelm I. zum Hofbaumeister, verlieh ihm den Titel Baurat und erhob ihn in den Personaladel. Da der Hof jedoch als Auftraggeber mehr und mehr hinter Staat und Bürgertum zurücktrat, konnte Egle seine Fähigkeiten eher im Privat- und Staatsbauwesen entfalten.
Unter den zahlreichen Privatbauten, die Egle in Stuttgart plante, ragen zwei heraus. Zum einen die 1859/60 entstandene, heute noch erhaltene Villa Knosp (Rotebühlstraße 72) für den Industriellen Rudolf Knosp. In der Materialkombination aus unverputztem Backstein und Haustein wurde sie wegweisend. Bei der Ausgestaltung komponierte Egle norddeutsche mit Elementen aus der niederländischen und französischen Renaissance zu einem ganz eigenen Stil. Die betonte Asymmetrie verlieh dem Bau eine malerische Wirkung. Zudem wird kolportiert, Egle habe zu dieser Zeit proklamiert: „Ich baue nur massiv!“ All dies beeindruckte die Zeitgenossen sehr und sorgte dafür, dass die Villa Vorbildcharakter annahm und ihrem Architekten öffentliche Aufmerksamkeit sicherte.
Zum anderen baute er 1860/61 für Johann August Sauter, den württembergischen Konsul für Texas, die Villa Texas, welche 1910 dem Neubau der Reichsbahndirektion weichen musste. Bei ihrer Konzeption folgte Egle ganz anderen Maßgaben: Symmetrie, axiale Bezüge zum Garten und eine klare Anlehnung an die italienische Renaissance zeichneten das Ensemble aus. Diese beiden Beispiele belegen, wie bravourös Egle die Klaviatur der historischen Stile beherrschte. Im Zeitalter des Historismus war dieser Ansatz die Basis für das gesamte baukünstlerische Wirken. Es herrschte die Auffassung vor, dass es für jede Bauaufgabe bereits einen passenden Stil gäbe, den man lediglich folgerichtig zur Anwendung bringen müsse. Zudem hatten die Auftraggeber meist klare Vorstellungen und machten stilistische Vorgaben, die dem Architekten höchste Flexibilität in der Wahl seiner Mittel abforderte.
Zwei bedeutende Staatsaufträge setzte Egle in Stuttgart um. 1860 bis 1864 verwirklichte er seine Pläne für das Polytechnikum an der Nordostseite des späteren Stadtgartens. Der durch drei kraftvolle Risalite und eine überkuppelte Sternwarte akzentuierte Dreigeschosser folgte in der architektonischen Durchbildung der italienischen Renaissance. Die Ruine des kriegszerstörten Gebäudes wurde abgerissen; in etwa erhebt sich hier heute das Kollegiengebäude I der Universität Stuttgart.
1867 bis 1870 folgte die Errichtung der Baugewerkeschule (heute Hochschule für Technik) an der Südwestseite des Stadtgartens. Zunächst lehnte Egle das äußere Erscheinungsbild am „italienischen Stil“ des Polytechnikums an. Der enorme Zulauf an Schülern zwang ihn jedoch, die Pläne zu ändern: Um mehr Raum zu gewinnen, setzte er dem Bau hohe, französische Dächer auf. Dies veränderte dessen Charakter völlig. Folgerichtig tauschte er an den Fassaden die italienischen Formen zugunsten französischer Dekore des 17. Jahrhunderts aus. Dies belegt erneut Egles stilistische Wandlungsfähigkeit. – Die Fassaden und die beiden beeindruckenden Lichthöfe sind erhalten.
Für das Königshaus konnte Egle nur kleinere Vorhaben verwirklichen. Den Auftakt bildete 1861 der nicht erhaltene Pavillon für den „Königlichen Weinberg“ auf der Prag. 1862/63 entstand das 2018/19 restaurierte Belvedere mit Rosengarten am Rande des Parks der Villa Berg, einer gewandten Komposition aus italianisierenden Pergolen und einem antikisch anmutenden Tempietto. Nach ihrer Inthronisation 1864 zogen König Karl und Königin Olga ins Neue Schloss ein. Egle gestaltete deren Appartements im Gartenflügel in den folgenden Jahren fast völlig neu. Bei den Dekorationen griff er auf französische Vorbilder aus Barock und Rokoko zurück. Als Verfechter klassischer Ideale fiel ihm dies nicht leicht. So rechtfertigte er diese Stilwahl damit, dass er dabei „höchsten Direktiven“ des Königspaars zu folgen hatte. Die Ausstattungen gingen in den Luftangriffen des Jahres 1944 unter.
Bescheiden fielen noch die letzten Aufträge des Hofes aus. Vor dem Gartenflügel des Neuen Schlosses legte Egle 1866/67 den „Königlichen Privatgarten“ an. Man opferte ihn anlässlich der Bundesgartenschau 1961 für den noch heute im Wesentlichen erhaltenen Rosengarten. 1870 schuf Egle den filigranen, gusseisernen Musikpavillon auf dem Schlossplatz; restauriert 2019/20. Anspruchsvoller gestaltete sich der Bau eines Refugiums für Herzogin Wera von Württemberg im Park der Villa Berg. 1880 stellte Egle die sogenannte Kleine Villa fertig. Die Ruine wurde nach dem Krieg beseitigt.
Egles erster Sakralbau in Stuttgart hatte ebenfalls bescheidenen Umfang: 1856 erhielt er von der katholischen Kirchengemeinde Cannstatt den Auftrag, die nach der Reformation in einen Speicher verwandelte Kirche St. Martin wiederherzustellen. Heute befindet sich am gleichen Ort ein stark veränderter Wiederaufbau von 1950. Als Opus magnum Egles gilt die imposante Kirche St. Maria an der Tübinger Straße. Die Finanzierung erwies sich als schwierig, die Suche nach einem Bauplatz nicht minder. Aus städtebaulichen Erwägungen hielt man schließlich an den Furtbachwiesen fest, obwohl Egle diese als „wohl einen der schlechtesten Stuttgarter Baugründe“ ansah. Endlich konnte der Bau 1871 begonnen werden. Die Zeiten waren für die Errichtung einer katholischen Kirche denkbar schlecht, da mit der Reichsgründung 1871 der Kulturkampf, also die Auseinandersetzung zwischen dem Reich unter Kanzler Bismarck und Papst Pius IX., das katholische Leben in Deutschland einschränkte. Es spricht für die liberale Haltung des württembergischen Königs Karl, dass St. Maria dennoch – als zweite katholische Kirche seit der Reformation im damaligen Stadtgebiet –1879 geweiht werden konnte.
Joseph von Egle orientierte sich bei der architektonischen Durchformulierung deutlich an der deutschen Gotik des 13. Jahrhunderts. Neben anderem stand insbesondere die Elisabethenkirche in Marburg für Typus und Fassade – Hallenkirche, Doppelturmanlage – Pate. Noch 1904 urteilte der Kunsthistoriker Max Bach: „Die im frühgothischen Geschmack erbaute katholische Marienkirche in Stuttgart zählt in ihrer einfachen und ruhigen Erhabenheit ohne Zweifel zu den schönsten gothischen Kirchen der Zeit.“ Nach der Teilzerstörung 1943/44 wurde St. Maria äußerlich weitgehend wiederhergestellt. Im Inneren ersetzt eine flache Holzdecke das ursprüngliche Sichtbacksteingewölbe. Die in den 1960er Jahren errichtete Paulinenbrücke stört die von Egle beabsichtigte Fernwirkung erheblich.
Auch bei der Restaurierung württembergischer Kirchen glänzte Egle. Beachtliches gelang ihm bei der Amanduskirche in Urach, beim Dom in Rottenburg, bei St. Peter und Paul in Weil der Stadt und dem Heiligkreuzmünster in Schwäbisch Gmünd, Herausragendes jedoch bei der Frauenkirche in Esslingen, die er gerettet hat. Dieses Genre ist eine der weiteren Facetten im Werk dieses ungeheuer vielseitigen und hochversierten Architekten.
Joseph von Egle trat als Grandseigneur auf – ausgestattet mit den aristokratischen Attributen Frack, Zylinder, Glacéhandschuhe und Knotenstock. Er wurde als sehr selbstbewusst, ja sogar als autokratisch wahrgenommen. Mit Auszeichnungen und Titeln wurde er überhäuft: 1863 Oberbaurat, 1864 Ehrenbürger von Stuttgart, 1878 Ehrenbürger von Ulm, 1884 Hofbaudirektor und Vorstand der Königlichen Bau- und Gartendirektion; zahlreiche Ordensverleihungen gingen damit einher. Sein nationales Ansehen spiegeln nicht zuletzt die Berufungen zum Juror bei Wettbewerben etwa für das Hamburger Rathaus, die Straßburger Universität und das Reichstagsgebäude in Berlin. Zudem war Egle Mitglied der Akademien in Wien, Berlin, München und des Royal Institute of British Architects in London. Egle zeigt sich in allen Werken und Entwürfen auf der Höhe des voll entfalteten Historismus. Er verfügte über ein Stilrepertoire, das es ihm leichtmachte, sowohl auf den Charakter und den Zweck der Bauaufgabe, als auch auf stilistische Wünsche des Auftraggebers einzugehen. Er starb am 5. März 1899 in Stuttgart. Sein Grab befindet sich auf dem Pragfriedhof.