Es ist eine neuere Version dieses Artikels vorhanden.
Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm gehört zu den bedeutenden evangelischen Kirchenführern im 20. Jahrhundert. 1933 begrüßte er die sog. Machtergreifung, schloss sich aber 1934 der Bekennenden Kirche an und leistete mit seiner Landeskirche erfolgreich Widerstand gegen die Gleichschaltungsversuche des deutschchristlichen Reichsbischofs Müller. Seine Bemühungen um die Einigung des Protestantismus ab 1941 führten dazu, dass schon im August 1945 in Treysa die Evangelische Kirche in Deutschland entstand, deren erster Ratsvorsitzender Wurm wurde.

Theophil Wurm studierte von 1887 bis 1891 Evangelische Theologie in Tübingen. Er ließ sich zwar von der damals modernen Theologie anregen und belehren, herzensmäßig stand er der biblizistischen Schule näher. Auf seiner Vikarsreise 1893 kam er in Berlin in Kontakt mit dem Hofprediger Adolf Stoecker und der evangelisch-sozialen Bewegung. Mit Stoecker fühlte er sich verbunden in der nationalen Gesinnung, dem sozialen Engagement, in seiner Ablehnung der Sozialdemokratie und auch seiner judenfeindlichen Einstellung. Wurm schloss sich später der von Stoecker gegründeten Christlich-Sozialen Partei an.

Von 1894 bis 1899 war er Stadtvikar an der Friedenskirche im Stöckach. Wurm nahm die Not der Arbeiterfamilien wahr, die z.T. in erbärmlichen Mietskasernen wohnten. Seine erste Pfarrstelle trat Wurm 1899 bei der Evangelischen Gesellschaft, der Stadtmission in Stuttgart, mit Dienstort Büchsenstraße 34 an. Durch Reisepredigten sollte er das Interesse für die Innere Mission in der Landeskirche wecken. Er hielt Kurse, in denen Geistliche in die verschiedenen Arbeitszweige der Inneren Mission eingeführt wurden. Bezüglich der Lösung der sozialen Frage unterstützte er die Forderungen des Arbeiterstandes, die sich aus der Idee der Gerechtigkeit in politischer Hinsicht ergeben. Er plädierte für eine Ethisierung der wirtschaftlichen Kämpfe durch die christlichen Gewerkschaften und die konfessionellen Arbeitervereine.

Von 1913-1920 war Wurm Pfarrer in Ravensburg. Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg brach für ihn eine Welt zusammen; die Bismarckzeit blieb Wurms politisches Leitbild. Es fiel ihm schwer, ein positives Verhältnis zum neuen demokratischen Staat zu entwickeln. Er begrüßte aber die Selbstständigkeit der Landeskirche nach dem Ende der Staatskirche. Politisch engagierte sich Wurm bei der Bürgerpartei, dem württembergischen Zweig der Deutschnationalen, und wurde 1919 in die Verfassungsgebende Landesversammlung sowie 1920 in den Württembergischen Landtag gewählt. Mit der Wahl zum Reutlinger Dekan 1920 gab er die politischen Ämter auf, nahm aber weiter wachen Anteil an den politischen Entwicklungen. 1927 wurde er Prälat von Heilbronn und 1929 im Stuttgarter CVJM-Gemeindehaus als Kandidat der Gruppe I vom Landeskirchentag zum Kirchenpräsidenten gewählt. 1933 nahm Wurm den Titel eines Landesbischofs an.

Sein Dienstsitz war der Evangelische Oberkirchenrat, Am alten Postplatz 4. Familie Wurm bezog eine Wohnung in der Silberburgstraße 187. Die zunehmende Politisierung und Polarisierung innerhalb der Pfarrerschaft in der Spätphase der Weimarer Republik veranlasste die Kirchenleitung, die Geistlichen zur Zurückhaltung in den politischen Kämpfen aufzufordern, freilich ohne große Erfolge.

Wie die meisten leitenden evangelischen Kirchenmänner begrüßte Wurm die „Machtergreifung“ durch das nationale Kabinett unter Adolf Hitler. Für die neue Regierung sprachen die betont kirchenfreundliche Haltung zu Beginn des Dritten Reichs, der Einsatz gegen das Freidenkertum und der Kampf gegen den Bolscheschewismus. Der national eingestellte Wurm begrüßte auch, dass Hitler die „Fesseln von Versailles“ abwerfen wollte. Wurm hatte anfangs Sympathien für die „Deutschen Christen“, die evangelisches Christentum und Nationalsozialismus verbinden wollten.

Im Frühjahr 1933 erfolgte die überstürzte Kirchenreform der Evangelischen Kirche Deutschlands. Aus dem lockeren Kirchenbund der Landeskirchen sollte eine Reichskirche (DEK) werden. Bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung arbeitete der deutschchristliche Wehrkreispfarrer Ludwig Müller als Vertrauensmann Hitlers mit. Nach Fertigstellung der neuen Verfassung erfolgt in ganz Deutschland Kirchenwahlen. Die Deutschen Christen errangen triumphale Siege. Nur Württemberg, Bayern und Hannover behielten die alten Kirchenleitungen und galten darum als „intakte“ Landeskirchen. Schließlich wurde Müller am 27. September 1933 zum Reichsbischof gewählt.

Gegen Ende 1933 ging Wurm in Konfrontation zum Reichsbischof und den Deutschen Christen. Grund dafür waren u.a. die theologischen Exzesse der Deutschen Christen, aber auch kirchenpolitische Aktionen wie etwa Müllers Überführung der Evangelischen Jugend in die HJ gegen den Wunsch der evangelischen Jugendführer. Wurm schloss sich 1934 der kirchlichen Opposition an. Er unterstützte aktiv den Weg, der zur Ersten Reichsbekenntnissynode von Barmen (29. bis 31. Mai 1934) führte, der Geburtsstunde der Bekennenden Kirche.

Nicht wenige württembergische Pfarrer sammelten sich bei der Bekenntnisgemeinschaft und der Kirchlich-theologischen Sozietät. Diese suchten den Anliegen der Theologischen Erklärung von Barmen in Württemberg gerecht zu werden. Immer wieder kam es zu Konflikten mit der Kirchenleitung unter Wurm, wenn diese sich zu Kompromissen mit dem NS-Staat genötigt sah.

1934 versuchte der Reichsbischof, die Landeskirche seiner Weisungsbefugnis zu unterstellen und damit gleichzuschalten. Wurm setzte sich mit einem Großteil der Pfarrer zur Wehr. Wurm wurde beurlaubt, in den Ruhestand versetzt und dann unter Hausarrest gestellt. Nach den Hauptgottesdiensten am 14. und 21. Oktober 1934 versammelten sich zwischen 5000 und 6000 Gemeindeglieder vor der Wohnung des Landesbischofs. Mit Liedern wie „Ein feste Burg ist unser Gott“ bekundeten sie ihre Verbindung zu dem arretierten Bischof. Der weltweit bekannt gewordene Widerstand der bayrischen und württembergischen Landeskirche bewirkte, dass die Bischöfe auf Veranlassung Hitlers rehabilitiert wurden.

Wurm gehörte innerhalb der Bekennenden Kirche zum gemäßigten Flügel, der etwa 1935 Ja sagte zur staatlichen Maßnahmen, um die Kirche zu „befrieden“, im Gegensatz zum entschlossenen Flügel der Bekennenden Kirche um Martin Niemöller, der solche staatlichen Eingriffe ablehnte. 1936 kam es zum Bruch.

Seit 1936 sah sich die Kirche herausgefordert durch die NS-Parole von der „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“. Der NS-Staat schaffte die Konfessionsschule ab und versuchte den Religionsunterricht durch einen nationalsozialistischen Weltanschauungsunterricht, kirchliche Kindergärten durch NSV-Kindergärten zu ersetzen. Das kirchliche Pressewesen wurde 1941 auf 0,8 % seines ursprünglichen Bestands reduziert. Proteste des Landesbischofs bewirkten nur wenig.

Die Zerstörung der Synagogen in der Reichsprogromnacht 1938 lehnte Wurm entschieden ab; er konnte sich aber - wie alle deutschen evangelischen und katholischen Bischöfe auch - nicht zu einem öffentlichen Protest durchringen.

Im Zweiten Weltkrieg konnte Wurm eine Annäherung der zerstrittenen Flügel der Bekennenden Kirche im Kirchlichen Einigungswerk erreichen. In der Kriegszeit verschickte Wurm mutige Protestschreiben an Staats-und Parteistellen, in denen er sich gegen konkrete Menschenrechtsverletzungen wie die NS-„Euthanasie“-Aktion und die Ermordung von Juden wandte. Ein von Reichsjustizminister Thierack 1943 vorbereiteter Prozess gegen den in Württemberg hochangesehenen Bischof durfte „aus politischen Gründen“ nicht durchgeführt werden. Nach Wurm konnte es nicht Sache der Kirche sein, den aktiven politischen Widerstand gegen Hitler zu betreiben. Er hatte aber Kontakt zum Goerdeler-Kreis, zum Kreisauer Kreis und zum Freiburger Widerstandskreis. Er war nach den Plänen des Widerstands dazu ausersehen, nach einem geglückten Attentat gegen Hitler eine Proklamation an das deutsche Volk zu verlesen.

Nach der Zerstörung seines Dienstgebäudes im Juli 1944 war der Oberkirchenrat nach Großheppach verlagert worden. Am Himmelfahrtsfest (10. Mai 1945) wurde Wurm mit Unterstützung der französischen Besatzungsmacht von der provisorischen Stadtverwaltung Stuttgart mit Oberbürgermeister Klett von Großheppach abgeholt. Er hielt einen Gottesdienst im Großen Haus der Staatstheater – alle größeren Kirchen waren in Stuttgart zerstört – mit einer Trostpredigt und anschließend vom Balkon aus eine Ansprache „im Namen unserer württembergischen evangelischen Landeskirche und im Namen der ganzen bekennenden Kirche in Deutschland [...] an unser Volk“, die in dem Aufruf endete: „Zurück zu Christus und zurück zum Bruder!“ Erst Mitte 1946 zog der Oberkirchenrat wieder nach Stuttgart und zwar zunächst in die Gerokstraße 21 und 23. Der Landesbischof wohnte bis zum Lebensende in der Stafflenbergstraße 51.

Unmittelbar nach dem Krieg wurde Wurm angefragt, ob er an die Spitze einer vorläufigen Regierung treten wollte. Wurm lehnte ab; er befürchtete wohl eine Vermischung von kirchlichen und politischen Aufgaben. Er war aber als Vertreter der Evangelischen Kirche Mitglied des Vorläufigen Volksvertretung für Württemberg-Baden. Die erste Sitzung fand am 16. Januar 1946 im Großen Haus der Staatstheater statt.

Wurms Einsatz im Kirchlichen Einigungswerk ist es zu verdanken, dass schon Ende August 1945 auf der Kirchenkonferenz von Treysa die Vorläufige Grundordnung der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschlossen und der zwölfköpfige Rat unter Wurm als erstem Ratsvorsitzenden und Martin Niemöller als seinem Stellvertreter gewählt wurde. In den Folgejahren war Wurm auch der Sprecher der Evangelischen Kirchen gegenüber den Besatzungsmächten. Wurms Kritik an den alliierten Entnazifizierungsmaßnahmen und sein Einsatz für Deutsche, die in Kriegsverbrecherprozessen verurteilt wurde, blieb nicht unumstritten, zumal Wurm sich nicht in entsprechender Weise für die Opfer der NS-Herrschaft eingesetzt hatte.

1948 wurde in Eisenach die endgültige Grundordnung der EKD verabschiedet.1949 trat Wurm als Ratsvorsitzender zurück. Schon 1948 war er als Landesbischof in den Ruhestand getreten. Er starb 1953 und wurde auf dem Waldfriedhof in Stuttgart begraben. Mit Wurm konnten sich eine große Zahl der württembergischen Pfarrer und Gemeindeglieder identifizieren. Bei allen Kompromissen der Kirchenleitung verlor Wurm das Ziel der Bekennenden Kirche nicht aus den Augen.

Text: Jörg Thierfelder
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

David J. DIEPHOUSE, Theophil Wurm (1868-1953), in: Rainer LÄCHELE/Jörg THIERFELDER, Wir konnten uns nicht entziehen, Stuttgart 1998, S. 13-24.
Gerhard SCHÄFER, Dokumentation zum Kirchenkampf. Die Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus, 6 Bde., Stuttgart 1971 ff.
Jörg THIERFELDER, Theophil Wurm, in: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, S. 743-758.
Theophil WURM, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 21973.

GND-Identifier: 118635646
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Thierfelder, Theophil Wurm (1868-1953), publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/87627a5f-fa50-40df-8371-5e62c6fd7f92/Theophil_Wurm_%281868-1953%29.html