Verabschiedung württembergischer Truppen für den kolonialen Kriegseinsatz in China 1900
Am 27. Juni 1900 verabschiedete König Wilhelm II. in Stuttgart die ersten württembergische Soldaten, die sich für einen kolonialen Kriegseinsatz in China gemeldet hatten.

Im Sommer des Jahres 1900 breitete sich eine antichinesische Stimmung im Königreich Württemberg wie auch im Kaiserreich insgesamt aus. Der Anlass war, dass in China gewalttätige Konflikte zwischen der Yihetuan-Bewegung (die sogenannten „Boxer“) und dem Kaiserhof auf der einen Seite und christlichen Missionen und mehreren imperialistischen Mächten auf der anderen Seite eskalierten. Letztere waren im 19. Jahrhundert massiv in China eingedrungen. Sie zielten nicht auf eine vollständige Kolonisierung des riesigen Kaiserreichs, sondern sie erzwangen wirtschaftlichen Zugang und Sonderrechte. Deshalb führte etwa Großbritannien die „Opiumkriege“ von 1839 bis 1842 und 1856 bis 1860. Die deutsche Kriegsmarine besetzte 1897 die Bucht von Jiaozhou (Kiautschou), erzwang einen Pachtvertrag auf 99 Jahre und errichtete eine dem Reichsmarineamt unterstehende Kolonie. Modernisierungsprojekte wie der deutsche Eisenbahnbau zur Ausbeutung von Kohlevorkommen riefen erhebliche Spannungen hervor. Als militante Gegenreaktion gegen ausländische Einflussnahme, christliche Mission und chinesische Konvertitinnen und Konvertiten erstarkte in Nordchina die bäuerliche Yihetuan-Bewegung. Zu ihrer Verbreitung trugen allerdings auch innere Konflikte sowie wiederholte schwere Hungersnöte bei.

Mitte 1900 spitzte sich der Konflikt zu und ausländische Truppen intervenierten militärisch in China. Am 20. Juni 1900 wurde der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler in Peking auf offener Straße von einem chinesischen Soldaten erschossen. Reguläre chinesische wie auch Yihetuan-Truppen begannen mit der Belagerung und Beschießung des ausländischen Diplomatenviertels. Am Tag darauf erklärte China den ausländischen Mächten offiziell den Krieg. Die Alliierten Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, Italien, USA und Japan stellten daraufhin große Expeditionskorps auf, um damit in China einzumarschieren und ihre bereits vor Ort befindlichen Einheiten zu verstärken.

Nun folgte der erste große Kampfeinsatz des Deutschen Reiches seit seiner Gründung im Jahre 1871. Es meldeten sich viele Freiwillige, um kurzfristig nach China auszurücken. Ihre Motivation speiste sich aus der Empörung über die Ermordung des deutschen Gesandten und über die Morde der Yihetuan, aber auch aus Abenteuerlust, der Aussicht auf Gefechte und Auszeichnungen sowie einer imperialistischen Grundstimmung. Sie waren von verschiedenen Seiten patriotisch aufgestachelt worden, nicht zuletzt durch einseitige oder falsche Pressemeldungen. So wurde Mitte Juni von der englischen Zeitung Daily Mail behauptet, das Diplomatenviertel in Peking sei besetzt und alle Ausländer seien ermordet worden. Diese Meldung fand auch in Deutschland weite Verbreitung.

Aus der Masse der Freiwilligen wurde jeweils ein etwa proportionaler Anteil aus den Teilstaaten des Deutschen Reiches ausgewählt. Am 22. Juni 1900 meldete die Presse, dass sich im Bereich des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps bereits über 700 Freiwillige zum Eintritt in die mobilisierten Seebataillone der Marine gemeldet hätten. Insgesamt traten ab 1900 mehrere Hundert Württemberger ein in verschiedenste Einheiten der Marine, des ostasiatischen Expeditionskorps und der Besatzungsbrigade, die noch eine Weile nach Beendigung des Krieges in China verblieb. Es gab sogar mehrere Einheiten, die weitgehend aus Württembergern zusammengesetzt waren, so die 8. Kompanien des 3. und des 6. Ostasiatischen Infanterie-Regiments.

Selbst wenn König Wilhelm II. (1848-1921) unter den deutschen Monarchen als besonders liberal, tolerant und bürgernah galt und bis heute gilt, unterstützte er die aggressiven Weltmachtambitionen Kaiser Wilhelms II. und entsprechender Interessenverbände. So übernahm er zum Beispiel im Januar 1900 die Schirmherrschaft des württembergischen Landesverbandes des Deutschen Flottenvereins. Er teilte dies sogleich telegrafisch dem Kaiser mit, von dem er dafür das erhoffte Lob erhielt. 1902 trat der König der Stuttgarter Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft bei und übernahm später auch die Schutzherrschaft ihres Landesverbandes. Königin Charlotte (1864-1946) hielt es ebenso. Sie wurde Protektorin des Landesverbandes des Deutschen Frauenvereins für Krankenpflege in den Kolonien, der ein Krankenhaus in Togo nach ihr benannte.

Insofern wundert es nicht, dass Wilhelm II. es sich nicht nehmen ließ, in Kolonialkriege ziehende Soldaten seines Armeekorps zu verabschieden. Am 27. Juni 1900 fand im Hof der großen Infanteriekaserne (Rotebühlkaserne) die erste Veranstaltung dieser Art statt. Daran nahmen auch Kriegsminister General Maximilian Freiherr Schott von Schottenstein, Divisionskommandeur Generalleutnant Albert von Schnürlen sowie Regimentskommandeure und Stabsoffiziere der Stuttgarter Garnison teil. Der König schritt zunächst die Front der 60 Freiwilligen ab, bei denen es sich laut Presse um „lauter auserlesene kräftige Leute der Infanterie und Feldartillerie“ handelte, und führte Einzelgespräche.

Danach hielt er eine Rede, in der er sie als „Kameraden“ ansprach. Er betonte, dass es ihm ein Herzensbedürfnis sei, ihnen ein Lebewohl zuzurufen, die mit ernstem Willen einer schweren Aufgabe entgegengingen. In China sollten sie dem „Namen Württemberg“ Ehre machen und treu zu Vaterland, Kaiser und Reich stehen. Er sei sich sicher, dass sie der Armee ein neues Ruhmesblatt hinzufügen würden. Am Schluss ließ er sie mit einem „Hurra!“ ein Gelöbnis auf den Kaiser ausbringen. Der Divisionskommandeur übernahm es wiederum, die Anwesenden den „vielgeliebten König“ hochleben zu lassen. Der Abmarsch der Freiwilligen durch die Königstraße zum Bahnhof wurde laut Presse von Tausenden begleitet, die sie stürmisch anfeuerten.

Am 13. Juli 1900 wurden im Hof der Rotebühlkaserne erneut Soldaten verabschiedet, dieses Mal Angehörige des Grenadier-Regiments Königin Olga Nr. 119. Und am folgenden Tag fand auf dem Ludwigsburger Arsenalplatz eine Besichtigung und Verabschiedung von etwa 200 Freiwilligen des Armeekorps unter großer öffentlicher Beteiligung statt. Die Königin sprach bei dieser Gelegenheit mit dem aus Bebenhausen stammenden Soldaten Heinrich Schleppe. Dessen Mutter ließ sie als Geschenk zwei gerahmte Fotos des Sohnes schicken, die sie dort selbst aufgenommen hatte.

Der König hielt eine ähnliche Ansprache wie zuvor in Stuttgart. Auch wenn er die Soldaten auf den Kaiser einschwor, war sein eigener Tonfall doch weit von dem entfernt, den der Kaiser anschlug. Insbesondere dessen sogenannte „Hunnenrede“ am 27. Juli 1900 in Bremerhaven bei der Verabschiedung von Tausenden Soldaten ist in die Geschichte eingegangen. Darin rief er die Soldaten im Namen der deutschen Ehre öffentlich zu Rache und letztendlich zu Kriegsverbrechen auf. Sie sollten nämlich kein „Pardon“ geben und keine Kriegsgefangenen machen, Feinde also unterschiedslos töten. Niemals wieder solle es ein Chinese wagen, einen Deutschen auch nur „scheel anzusehen“. In der Tat kam es im Laufe des Krieges zu vielen Massakern, summarischen Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Plünderungen seitens der Interventionstruppen. Die Deutschen waren daran wegen ihres späten Eintreffens auf dem Kriegsschauplatz vor allem im Rahmen sogenannter Strafexpeditionen beteiligt, als die militärischen Hauptziele eigentlich schon erreicht waren. Ein Beispiel ist die Eroberung der Kleinstadt Liangxiang am 11. September 1900 durch die Seebataillone, denen die ersten 60 Freiwilligen angehörten. Die Stadt wurde eingekesselt und beschossen, sodass die Zivilbevölkerung keine Chance hatte, zu entkommen. Zudem wurde der Befehl erteilt, alle männlichen Chinesen zu töten.

Den Oberbefehl über die alliierten Truppen hatte Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832-1904) übertragen bekommen – wenn auch ohne wirkliche Befehlsgewalt über die meisten Kontingente. In einem an König Wilhelm II. gerichteten Brief lobte Waldersee die württembergischen Offiziere und Mannschaften. Dabei hob er Hauptmann Knörzer hervor, den Kompaniechef der 8. Kompanie des 3. Infanterieregiments. Ihm wurden für seinen Einsatz später noch zahlreiche Orden bis hin zum höchsten preußischen Tapferkeitsorden „Pour le Mérite“ verliehen.

Am 9. August 1901 legte in Bremerhaven der HAPAG-Dampfer „Palatia“ an. Er brachte das 3. Ostasiatische Infanterieregiment und damit Knörzers Kompanie zurück. König Wilhelm II. hieß die Württemberger per Telegramm willkommen und zollte ihnen Anerkennung und Dank für ihre Leistungen. Darüber hinaus hatte das Schiff die Leiche Clemens von Kettelers sowie überaus wertvolles und symbolträchtiges Raubgut an Bord. Graf Waldersee hatte die einzigartigen antiken astronomischen Geräte der Pekinger Sternwarte abbauen lassen und zwischen Deutschland und Frankreich aufgeteilt. Dies geschah gegen den Protest Chinas wie auch des alliierten amerikanischen Generals Adna Chaffee. Die viele Tonnen schweren Bronzeobjekte wurden von Peking über Bremerhaven bis nach Potsdam verbracht, wo sie im Park des Schlosses Sanssouci aufgestellt wurden. Angesichts der breiten öffentlichen Empörung in der Heimat brachte die französische Regierung ihren Teil des Raubguts im Jahr 1902 zurück. Deutschland tat dies erst 1921, nachdem es dazu in Artikel 131 des Versailler Friedensvertrages verpflichtet worden war. Auf verschiedenen Wegen gelangten Objekte aus diesem Krieg auch in das heutige Linden-Museum in Stuttgart.

Auch später noch verabschiedete der König persönlich Soldaten, die in Kolonialkriege zogen. So erinnerte er am 27. Januar 1904 Offiziere und Mannschaften, die in den Herero-Krieg in Deutsch-Südwestafrika ziehen wollten, an ihre Pflicht, die „deutsche Ehre und das deutsche Recht“ zu wahren. Er verlieh Teilnehmern der beiden Kolonialkriege Orden. Und für diejenigen Württemberger, die darin gefallen oder verschollen waren, ließ er 1910 Gedenktafeln in der Stuttgarter Garnisonkirche anbringen.

Über die Kolonialkriege war die Gesellschaft allerdings durchaus gespalten. Die sozialdemokratische und die linksliberale Presse übte scharfe Kritik daran. Bereits Ende 1901 kam es deswegen am Landgericht Stuttgart zu Prozessen gegen Redakteure, die vom preußischen Kriegsministerium wegen Verleumdung des Expeditionskorps verklagt worden waren.

Text: Heiko Wegmann
Schlagworte: Stuttgart-Mitte, Kolonialismus
Quellenhinweise:

Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 14 Bü 756 königliches Kabinett II, Departement der auswärtigen Angelegenheiten, China: Boxeraufstand/1900-1901.
Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 40/18 Bü 307 Wirren in China (Boxeraufstand).

Literaturhinweise:

Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010.
Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007.
Till Spurny, Die Plünderung von Kulturgütern in Peking 1900/1901, Berlin 2008.

Publiziert am: 01.09.2022
Empfohlene Zitierweise:
Heiko Wegmann, Verabschiedung württembergischer Truppen für den kolonialen Kriegseinsatz in China 1900, publiziert am 01.09.2022 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/b5b4bcef-7f64-4dc0-b731-5273099a5a5e/Verabschiedung.html