Der in Stuttgart geborene Jurist Ulrich Rauscher wurde 1919 zum ersten Pressechef der Reichsregierung berufen. Er verfasste 1920 den Aufruf zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch. Ab 1921 war er Gesandter in Georgien, dann in Polen. Früh setzte er sich für die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn ein.

Rauscher wurde in eine wohlhabende bürgerliche Familie hineingeboren. Der Vater Friedrich (1845-1886) leitete das nach ihm benannte Rauscher-Institut, eine „Lehr- und Erziehungsanstalt für Knaben“ in der Werastraße 22, die Familie wohnte in der Olgastraße 22. Doch der Vater starb, als Ulrich zwei Jahre alt war, die Mutter Christiane (1853-1891) verlor er im Alter von sieben Jahren.

Die im Stadtarchiv Stuttgart aufbewahrten und jetzt erstmals ausgewerteten Vormundschaftsakten dokumentieren bis ins Detail die materielle Seite von Rauschers Kindheit und Jugend; jede Anschaffung von Kleidung, Literatur oder Medikamenten ist hier festgehalten. Der Junge lebte von den Erträgen des erheblichen elterlichen Erbes. Sein Vormund war der Künstler und Fabrikant Paul Stotz, Inhaber einer bedeutenden Kunstgießerei in der Neckarstraße 142. Rauscher wohnte in der Eugenstraße 1 bei Institutsdirektor Carl Widmann, dem Nachfolger seines Vaters als Leiter des Rauscher-Instituts. Der Junge hatte eine „schwache Konstitution“, was immer wieder Erholungsaufenthalte nötig machte, etwa im Schwarzwald oder an der Nordsee. Standesgemäß besuchte er zunächst das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, ging aber 1898 ans Realgymnasium, das heutige Dillmann-Gymnasium. Im Jahre 1899 starb der „Pfleger“ Stotz, die Vormundschaft ging an Paul Herrmann über, Bauinspektor in Mühlhausen im Elsass, dem heutigen Mulhouse. 1901 wechselte Rauscher auf das Realgymnasium im badischen Ettenheim, wo er Logis und Kost im Ort hatte. Dort machte er 1903 das Abitur.

Rauscher studierte zunächst Philologie in München, ab 1904 in Heidelberg. Hier wechselte er dann in die Rechtswissenschaft, absolvierte Auswärtssemester in Straßburg und Oxford. 1906 schloss er sich dem Corps Suevia an. Das juristische Referendariatsexamen legte er 1908 ab. Schon während der Schulzeit, verstärkt aber während des Studiums, kam Rauscher oft mit seinem Geld nicht aus, machte immer wieder Schulden, die dann durch Sonderzahlungen aus dem Erbe getilgt werden mussten.

In Straßburg begann er sein Referendariat, brach es aber bald ab. Er sprach fließend Französisch und liebte die Lebensart des westlichen Nachbarn. Zeitgenossen beschreiben ihn nun als glänzenden Unterhalter, als klugen, gewandten Intellektuellen, der den Freuden des Lebens nicht abgeneigt war. Ab 1910 arbeitete er journalistisch, auch für die renommierte linksliberale „Frankfurter Zeitung“. Von 1913 an erschienen dann auch regelmäßig Arbeiten von ihm in der Monatszeitschrift „März“, damals geleitet von seinem schwäbischen Landsmann Theodor Heuss. Er schrieb ein Theaterstück und einen Roman, übersetzte „Die drei Musketiere“ von Alexander Dumas aus dem Französischen. 1912 hatte Rauscher die aus Ostpreußen stammende Helene Bielski (1883-1953) geheiratet, die Ehe blieb kinderlos. Ende 1913 ging Rauscher nach Berlin, arbeitete nach Kriegsbeginn 1914 dienstverpflichtet im Kriegspresseamt und bei der deutschen Verwaltung in Brüssel. In seiner „belgischen Zeit“ hatte er intensiven Briefkontakt mit dem Stuttgarter Liberalen Conrad Haußmann. Wohl 1917 trat Rauscher der SPD bei; er verlor seinen ruhigen Verwaltungsposten und kam als Artillerist an die Westfront.

Am 18. November 1918 machte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, Mitglied im Rat der Volksbeauftragten, Rauscher, der seit Sommer 1918 wieder in Berlin lebte, zu seinem persönlichen Sekretär. Im Januar 1919 wurde der gerade 35-Jährige Pressechef der Reichsregierung, im August 1919 erster Leiter der „Vereinigten Presseabteilung der Reichsregierung und des Auswärtigen Amtes“ im Range eines Ministerialdirektors.

Im März 1920 putschten rechte Militärs gegen die Weimarer Republik („Kapp-Putsch“). Während in der Nacht vom 12. auf den 13. März die Aufständischen nach Berlin marschierten, tagte dort die Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Bauer. Reichspräsident Friedrich Ebert und die sozialdemokratischen Minister beauftragten nach den Beratungen den Pressechef Rauscher, einen Aufruf zum Generalstreik zu verfassen. Rauscher schrieb einen flammenden Appell, setzte die Namen des Reichspräsidenten, der Minister und des SPD-Fraktionsvorsitzenden Otto Wels darunter und ließ ihn umgehend über die Gewerkschaften und ein Pressebüro verbreiten.

Es war klar, dass die Reichsregierung Berlin verlassen musste. Zunächst sollte es nach Dresden gehen, doch auch dort konnte die Regierung nicht sicher sein. Nun riet Rauscher dem Reichspräsidenten nach Stuttgart auszuweichen. Es ist zu vermuten, dass er in diesem Zusammenhang auch seine alten Kontakte in die Stadt nutzte. Unter dem Schutz verfassungstreuer württembergischen Einheiten traf am 15. März die Reichsregierung hier ein und nahm umgehend ihre Arbeit auf, bereits am 18. März tagte die Nationalversammlung im Kuppelsaal des Kunstgebäudes. Rauscher war die ganze Zeit zugegen, führte Gespräche vor allem mit Pressevertretern, blieb aber eher im Hintergrund. Unter dem Druck des Generalstreiks brach am selben Tag der Putsch zusammen, Regierung und Parlament konnten nach Berlin zurückkehren.

Nach der Reichstagswahl vom Juni 1920 beteiligte sich die SPD nicht wieder an der Regierung. Damit verlor auch Pressechef Rauscher seinen Posten. Vielleicht mit Unterstützung Eberts, der große Stücke auf Rauscher hielt, konnte er jedoch Anfang 1921 in den diplomatischen Dienst eintreten, wenn auch nur auf die unattraktive Position des „außerordentlichen und bevollmächtigten Gesandten“ im georgischen Tiflis. Nach der Besetzung des Landes durch die Rote Armee im Februar 1921 erledigte sich jedoch der Posten; Rauscher wurde zu Beginn des Jahres 1922 abberufen.

Im April 1922 wurde er zum Gesandten in Warschau ernannt: eine äußerst schwierige Aufgabe im Lande des damals weithin verhassten östlichen Nachbarn. Rauschers tiefes politisches Verständnis, sein diplomatisches Geschick, aber auch seine Gastfreundschaft in der Gesandtschaft, die er zu einem Ort der Begegnung machte, sorgten für eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre. Rauscher handelte mit den zuständigen polnischen Politikern mehrere grundlegende Abkommen aus, die jedoch nur zum Teil in Kraft traten.

Anfang November 1930 erkrankte Rauscher vermeintlich an einer Kehlkopfentzündung und wandte sich an eine Spezialklinik in St. Blasien. An der dort diagnostizierten Kehlkopftuberkulose starb er am 18. Dezember im Alter von nur 46 Jahren. An der Beerdigung in St. Blasien nahm auch eine hochrangige polnische Delegation teil.

Text: Ulrich Gohl
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Stadtarchiv Stuttgart 218 Vormundschaftsakten R1 Ulrich Rauscher.

Realgymnasium Ettenheim, Bericht über das Schuljahr 1903/04, Ettenheim 1904, S. 15.

Literaturhinweise:

Kurt Doss, Zwischen Weimar und Warschau. Ulrich Rauscher, Deutscher Gesandter in Polen 1922-1930. Eine politische Biografie, Düsseldorf 1984.
Wolfgang Elz, Ulrich Rauscher, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 211 f., Onlinefassung: https://www.deutsche-biographie.de/sfz104563.html.
Theodor Heuss, Erinnerungen 1905-1933, Tübingen 1963.
Gerhard Keiper (Bearb.), Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 3, München/Wien/Zürich 2008, S. 580.
Wilhelm Kohlhaas, Chronik der Stadt Stuttgart 1918-1933, Stuttgart 1964, S. 26 u. 365.

GND-Identifier: 118749323
Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Gohl, Ulrich Rauscher (1884-1930), publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/bc82b898-4430-4005-b737-2a0aeaeb3769/Ulrich_Rauscher_%281884-1930%29.html