Der Stuttgarter Marktplatz führt als Ensemble der Nachkriegszeit das Aufbaugeschehen nach 1945 lebendig vor Augen: Die damaligen Planungsparadigmen wie auch der Umgang mit der baulichen Überlieferung sind hier in verdichteter Weise ablesbar.

Der Marktplatz bildet das Zentrum der bürgerlichen Stadt. Bis in die Gegenwart ist er als Markt-, Fest- und Veranstaltungsplatz in Funktion und bildet insbesondere während der geschäftigen Wochentage ein wichtiges Gelenk im Straßengeflecht der Altstadt. Seine geschichtliche Entwicklung beginnt in Stuttgart wohl mit einem Straßenmarkt, der sich von der heutigen Marktstraße bis in den Bereich der Schulstraße erstreckte und Anfang des 15. Jahrhunderts eine Erweiterung erfuhr. Mit dem Bau des sogenannten Herrenhauses an der Südost- und des Rathauses an der Südwestseite erhielt der Platz seine bis heute vorhandene Ausrichtung. Zäsuren bildeten der Abbruch des Herrenhauses 1820 und die Neuerrichtung eines großen Rathauskomplexes 1899 bis 1905 anstelle des Altbaus und der hier vorhandenen Quartiersbebauung.

Das heutige Erscheinungsbild des Platzes mit der ihn umgebenden Architektur ist eine Schöpfung der Nachkriegszeit. Nach den weitgehenden Zerstörungen der umgebenden Bebauung während des Zweiten Weltkriegs wurde ihre Neuformulierung – wie auch der Aufbau der bürgerlichen Altstadt generell – zu einem zentralen Thema der innerstädtischen Planungen. Anregungen aus einem 1946 veranstalteten Altstadtwettbewerb wurden aufgegriffen und mündeten Ende der 1940er Jahre in die Entscheidung für eine vom historischen Vorbild abweichende architektonische Haltung. Dem westdeutschen Aufbauparadigma entsprechend sollte sich die neue Architektur in Stuttgart sichtbar als der „neuen Zeit“ zugehörig präsentieren. Die einzelnen Bauten wurden mit Flachdachabschlüssen gestaltet, die sich vom traditionellen Bild der giebelständigen, in sichtigem oder verputztem Fachwerk gehaltenen Vorgängerbauten deutlich absetzten. An diese lehnte sich aber das kleinteilige Bild der Fassadenabwicklung an, da man auf den überkommenen Parzellen der privaten Wohn- und Geschäftshäuser aufbaute, sodass sich in Verbindung mit den gerasterten Putzgliederungen der Fassaden und deren differenzierter Farbgebung insgesamt das Bild einer Verbindung von Alt und Neu ergab.

Die überlieferten Baufluchten sollten dazu dienen, die Bebauung zwischen Stitzenburg und Hegelplatz insgesamt erlebbar zu machen: Ein fließendes Kontinuum typologisch ähnlicher, im Altstadtkern jedoch deutlich kleiner dimensionierter Bauten sollte einen stringenten gestalterischen Zusammenhalt kreieren, in dem der Marktplatz gleichwohl als die Mitte der bürgerlichen Stadt mit historischer Referenz erlebbar blieb. Die Abkehr von den traditionellen Steildächern der Vorgängerbauten stand in engem Zusammenhang mit dem gewählten städtebaulichen Ansatz. Dem Zeitgeschmack entsprechend wurde dem Ensemble durch sorgfältige Farbgebung nach Entwurf des Künstlers und Farbplaners Manfred Pahl ein heiteres und abwechslungsreiches Erscheinungsbild verliehen.

Die kleinteilige Struktur des Marktplatzes setzt sich teilweise in den hier einmündenden Straßen fort. Hervorzuheben ist, dass auch in atmosphärischer Hinsicht besonders auf die Blickbeziehung zur optisch in den Marktplatz hineinwirkenden Stiftskirche Rücksicht genommen wurde. In zahlreichen Abbildungen ist diese Perspektive ebenso wie der Blick aus der Kirchgasse zum Marktplatz als Beleg der Kleinteiligkeit und des organischen Zusammenhalts der bürgerlichen Stadt zu finden.

Die Ablesbarkeit überkommener Parzellierung und städtebaulicher Grundprinzipien verweist beim Stuttgarter Marktplatz somit auf eine Zeitschicht, die über den Klassizismus zurückverweist auf Renaissance und Spätmittelalter. Es ist durchaus anzunehmen, dass sich in den Kellern der meisten, auf älteren Grundmauern errichteten Neubauten der frühen 1950er Jahre noch Substanzbereiche aus den Zeiten der früheren Stadtgeschichte finden lassen.

Das älteste sichtbare Zeugnis des heutigen Marktplatzes ist der sogenannte Thouret-Brunnen, ein Werk des frühen 19. Jahrhunderts, das in der Zeit vor dem Neubau des kaiserzeitlichen Rathauses mit dessen Vorgängerbau ein besonders reizvolles Ensemble bildete.

Als bürgerlich-repräsentatives Pendant zur Stiftskirche fungiert das Neue Rathaus der Architekten Hans Paul Schmohl und Paul Stohrer, das, als „mutiges Bekenntnis zum Neuen Bauen“ gedacht, zugleich den Fortschrittsoptimismus der Stadtoberen demonstrieren sollte. Sein Vorgängerbau war eines jener wilhelminischen „Schlösser des Bürgertums“, in denen die Verwaltung der rasant wachsenden modernen Großstädte mit ihren zahlreichen neuen Aufgaben seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterzubringen waren. Vierzig Jahre nach seiner Einweihung 1905 wurde dieser nach Entwurf der Architekten Johannes Vollmer und Heinrich Jassoy errichtete Bau, wie viele andere Bauten der Zeit um 1900, im Zweiten Weltkrieg nur teilzerstört – der markante Turm war gänzlich unversehrt geblieben. Von der historistischen Grundhaltung des repräsentativen Marktplatzflügels, der mit seinen Formen flämischer Flamboyant-Gotik eine zeittypische, doch eher fremd empfundene Note in das Zentrum gebracht hatte, distanzierte sich die Stadt in Person des damaligen Oberbürgermeisters Arnulf Klett aufs Entschiedenste und lobte für seine Neugestaltung 1951 einen Wettbewerb aus.

Dass der schließlich errichtete Bau eine eher ambivalente Modernität aufweist, ist Ergebnis einander widerstreitender Vorgaben, zu denen etwa der Erhalt der Kernsubstanz des Turmes zählte. Erkennbar ist darin ebenfalls der Umstand, dass die vielbeschworene Modernität nicht unbedingt der personellen Besetzung der Bauämter entsprach, in denen die in den 1930er und 1940er Jahren tätigen Architekten und Städtebauer traditionalistischer Orientierung weiterhin mitagierten. Selbst wenn sich der Paradigmenwechsel etwa in der Architektenausbildung an der Technischen Hochschule Stuttgart hin zu einer prononcierten Moderne-Rezeption und -Fortschreibung auch zunehmend in der Besetzung der Ämter bemerkbar machte, vereinigt doch das Rathaus die seinerzeit konkurrierenden Tendenzen in beeindruckender und singulärer Ablesbarkeit.

Der Marktplatz ist am authentischsten erlebbar, wenn er seine eigentliche Funktion erfüllt: als Treffpunkt der Bevölkerung im Rahmen verschiedener Märkte, etwa des Wochenmarktes oder des Weihnachtsmarktes und als wichtiger Knotenpunkt im Geflecht der Altstadtstraßen und -gassen. Mit dem Rathaus als dem zentralen Gebäude der Bürgerschaft setzt er eine der europäischen Stadt eigene Zentrumsfunktion – wenngleich auch in zurückhaltender repräsentativer Weise – fort.

Text: Bernhard Sterra
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

Bauherr Stadt Stuttgart. Ein Leistungsbericht der Stadt Stuttgart und des schwäbischen Baugewerbes, Stuttgart o. J. (Bd. I), 1956 (Bd. II).
Hansmartin Decker-Hauff, Geschichte der Stadt Stuttgart, Band 1: Von der Frühzeit bis zur Reformation, Stuttgart 1966.
Bernhard Sterra, Das kaiserzeitliche Stuttgarter Rathaus. Abschlussarbeit M.A., Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1985 (Ms.).
Bernhard Sterra, Das Stuttgarter Stadtzentrum im Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1945 bis 1960, Stuttgart 1991.
Gustav Wais, Alt-Stuttgart. Die ältesten Bauten, Ansichten und Stadtpläne bis 1800, Stuttgart 1954.

Publiziert am: 15.12.2021
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Sterra, Marktplatz und Rathaus: Wiederaufbau nach 1945, publiziert am 15.12.2021 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/d4247bec-11ee-4eeb-95e1-f700462bf863/Marktplatz_und_Rathaus%3A.html