"Deportationen" seit 1941 mit Gedenkstätte Nordbahnhof
Stuttgart war von Dezember 1941 bis Februar 1945 Ausgangspunkt mehrerer Deportationen von rund 2.500 jüdischen Einwohnern Stuttgarts und Württembergs, von denen weniger als 190 die Schoa überlebten.

Die NS-Führung verfolgte bis ins Jahr 1941 keinen Plan zur systematischen Ermordung der Juden in ihrem Machtbereich. Die Deportation der Juden aus Baden und der Pfalz nach Südfrankreich im Oktober 1940 verwies jedoch auf eine radikale Verschärfung der Verfolgung. Die Entscheidung für den Mord an den europäischen Juden fiel schließlich im Kontext einer kumulativen Radikalisierung nach dem Überfall auf die Sowjetunion und dem Beginn von Mordaktionen durch Einsatzgruppen sowie mit Gaswagen.

Als früher lokaler Hinweis auf eine Deportation – vor dem Verbot zur Emigration und vor Einführung der Kennzeichnungspflicht (gelber Stern) – kann ein Standortbefehl des Höheren SS- und Polizeiführers Kaul gelten; er bot Mitte August 1941 freiwerdende „Judenwohnungen“ für hauptamtliche SS-Führer und Offiziere der Ordnungspolizei an. Freilich waren schon seit Anfang 1940 Zwangsumsiedlungen in der Stadt selbst sowie in Landgemeinden im Gange. Sie wurden im Spätherbst 1941 auf Initiative des kommunalen Wohnungsamts intensiviert, das die Bekämpfung der Wohnungsnot und rassistische Maßnahmen verknüpfte. Nutznießer war die Rüstungsindustrie; so setzte die Firma Heinkel gegen Überlassung von 60 Wohnungen ländliche Zwangsaltenheime instand.

Parallel zu diesen Binnen-Deportationen bereitete das Reichssicherhauptamt eine erste Serie von Deportationen aus 16 Städten ins „Reichskommissariat Ostland“ vor, darunter Stuttgart; die regionale Organisation oblag der Stapoleitstelle Stuttgart. Erst zwei Wochen vor dem vorgesehenen Termin am 1. Dezember 1941 informierte der Leiter des „Judenreferats“ die Vertreter der jüdischen Gemeinde und befahl die Benennung von tausend Menschen – ein perfider Versuch, die jüdischen Repräsentanten zu Handlangern zu machen. Die Deportation war als Umsiedlung getarnt: Die Gemeinde hatte u.a. Werkzeuge und Gerätschaften zu organisieren, auch waren Personen über 65 Jahren ausgenommen; vorwiegend jüngere und arbeitsfähige Personen sollten „umsiedeln“. Den Betroffenen blieben wenige Tage, um buchstäblich ihre bisherige zivile Existenz aufzulösen, Abschied zu nehmen – und um umfangreiche Vermögenserklärungen auszufüllen, um den Tätern die Ausplünderung zu erleichtern.

Als Sammellager fungierte das Gelände der 3. Reichsgartenschau 1939 auf dem Killesberg. Dort oder im Gemeindehaus in der Hospitalstraße war zwischen dem 24. und 26. November das Gepäck abzuliefern. Seit dem 27. November trafen Betroffene aus den Landgemeinden, begleitet von Ordnungspolizisten, in Sonderabteilen oder -wagen regulärer Züge in Stuttgart ein. Während in der sogenannten Ehrenhalle des Reichsnährstands Visitation und Registrierung erfolgte, mussten die Menschen mehrere Tage und Nächte in drangvoller Enge in der Blumenhalle kampieren. Für die Deportation mussten die Opfer eine Fahrkarte bezahlen sowie die Beschlagnahme ihres (meist kaum noch vorhandenen) Vermögens quittieren. Ein von der Stapoleitstelle oder der Stadt in Auftrag gegebener Film über das Sammellager ist ein Dokument der Verzweiflung und Grausamkeit zugleich.

In den frühen Morgenstunden des 1. Dezember 1941 begann eine viertägige Fahrt vom Inneren Nordbahnhof nach Riga. Das dortige Ghetto war trotz eines Massakers am 30. November bei Ankunft des Zuges aus Stuttgart sowie Zügen aus Nürnberg, Wien und Hamburg noch belegt. Die Deportierten wurden deshalb in das provisorisch als Lager hergerichtete Gut Jungfernhof verschleppt. Aufgrund der katastrophalen Bedingungen in ungeheizten Scheunen sowie bei der Zwangsarbeit starben viele Menschen. Der Großteil der Deportierten fiel am 25. März 1942 einem Erschießungskommando zum Opfer. 1943 wurden Überlebende ins neu eröffnete KZ Kaiserwald verlegt. Nach den Erhebungen Paul Sauers haben nur 42 Personen diese Deportation überlebt.

Ein zweiter Deportationszug verließ Stuttgart am 26. April 1942, zwei Wochen später als zunächst geplant. Gestapochef Mußgay sprach in einem Erlass vom 25. März 1942 von der vorläufig letzten Gelegenheit zur „Entjudung“; Zurückstellungen sollten abgesehen von Menschen über 65 Jahren und besonders Gebrechlichen über 55 Jahren nur in Ausnahmefällen erfolgen. Das Sammellager befand sich erneut auf dem Killesberg, allerdings in der Ländlichen Gaststätte am Nordeingang. Grund für diese Verlegung war neben der für diesen Tag geplanten Öffnung des Parks auch die geringere Zahl von Opfern. 273 Personen stammten aus Württemberg-Hohenzollern, davon 173 aus Stuttgart; außerdem kamen am 24. April mit dem Zug 75 Personen aus Karlsruhe, die der Verschleppung nach Gurs entgangen waren. Neueren Forschungen von Steffen Hänschen zufolge wurden auch 17 Personen aus der Pfalz, 24 aus Luxemburg und 53 aus Trier deportiert.

Ziel war das Transitghetto Izbica im Raum Lublin, der geradezu ein Experimentierfeld für Massenmord war. Izbica war das größte jener Transitghettos, in die im Frühjahr 1942 fast 80.000 Menschen vor allem aus dem sogenannten „Altreich“ verschleppt wurden. Keiner der Stuttgarter Deportierten hat überlebt. Soweit sie nicht zuvor umkamen oder ermordet wurden, waren sie unter den rund 1,75 Millionen Opfern der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ in Belzec, Sobibor und Treblinka.

Nachdem die Gestapo am 13. Juli 1942 vom Gemeindehaus in der Hospitalstraße 49 Menschen über einen in München organisierten Sammeltransport direkt nach Auschwitz verschleppt hatte, kündigte sie Anfang August die „Umsiedlung“ aller im Gaugebiet verbliebenen Juden an. Wiederum gab sie Einzelheiten sehr kurzfristig bekannt, am 14. August. Betroffen waren vor allem bisher verschonte ältere, kaum arbeitsfähige Menschen, einige nicht einmal gehfähig, insgesamt mehr als die meist genannten tausend Menschen. Entsprechend schreckliche Szenen spielten sich in den Ausstellungshallen auf dem Killesberg ab, die trotz der sommerlichen Veranstaltungen als Sammellager fungierten. Details wie etwa eine temporäre Schließung sind nicht nachweisbar. Über ein „Eintrittsgeld“ und ein auf fünf Jahre berechnetes Pflegegeld (sogenannte „Heimkaufverträge“) wurden den Betroffenen oder ersatzweise der jüdischen Gemeinschaft die letzten Pfennige abgepresst.

Ziel des Deportationszugs vom 22. August war das Konzentrationslager in der ehemaligen österreichischen Kasernenanlage Theresienstadt (Terezin) im sogenannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, das als Sonderlager für Menschen über 65 Jahren und aus verschiedenen Gründen „Privilegierte“ galt. Obwohl dort „Sterbensbedingungen“ (Hans-Günther Adler) herrschten und seit Herbst 1942 Transporte nach Auschwitz rollten, erfüllte Theresienstadt die vom Regime zugedachte propagandistische Funktion als „Vorzeigelager“, selbst gegenüber dem Internationalen Roten Kreuz.

Um die Hinterlassenschaften der Deportierten bemühten und stritten sich Behörden, NS-Organisationen und Nachbarn. Während für Stuttgart Details über öffentliche Versteigerungen fehlen, lassen sich auch hier Interessen und Konflikte der Machtträger nachvollziehen. So konnte sich beispielsweise die Stadtverwaltung Zwangsaltenheime gegen Ansprüche der NSV sichern, während sie –1942 – noch eine vom Innenministerium angebotene Möbelreserve für Fliegergeschädigte ablehnte. An den Deportationen waren neben dem Sicherheitsapparat vor allem die Finanzbehörden, auf kommunaler Ebene auch Sozial- und Wohnungsverwaltung, Ernährungs- und Wirtschaftsämter direkt oder indirekt involviert.

Nach den großen Deportationen der Jahre 1941/42 galt der Gau als „judenfrei“. In Stuttgart lebten damals noch etwa 300 jüdische Menschen, zwei Drittel mit dem Status von „Mischehenpartnern“. Sie fristeten ein Leben unter unerträglichen Bedingungen, meist in Zwangsarbeit, permanent bedroht: 1943 wurden bei drei Deportationen 58 Personen direkt oder über Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt.

Am 10. Januar 1943 befahl die Gestapo drei Dutzend Personen, deren „Mischehe“ aufgrund von Scheidung oder Tod des nichtjüdischen Partner erloschen war, in ihrem Hauptquartier „Hotel Silber“ die Deportation nach Theresienstadt. Die Betroffenen mussten unter Aufsicht packen, wurden dann mit weiteren Opfern aus Landgemeinden im Gemeindehaus versammelt. Die meisten von ihnen überlebten die Deportation, ebenso die im November 1944 in ein Lager bei Wolfenbüttel deportierten „Mischehenpartner“ und „Mischlinge“.

Das NS-Regime nahm im Untergang auf sogenannte privilegierte Mischehen keine Rücksicht mehr. Ein Transport nach Theresienstadt verließ Stuttgart noch am 11. Februar 1945. Einige Betroffene hatten erfolgreich untertauchen können; für zwei Deportierte wurde es eine Fahrt ohne Wiederkehr. Nach der Befreiung am 8. Mai schlugen sich einige auf eigene Faust nach Stuttgart durch, 47 Personen kamen am 23. Juni mit von der Stadt geschickten Omnibussen zurück.

Ein erster Ort des Gedenkens an die Deportationen entstand nach einer 1960 vorgebrachten Anregung aus der Gesellschaft für Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit (GCJZ) erst im Juni 1962 – nach der Bundesgartenschau von 1961. Gedenkfeiern zum 1. Dezember, dem Jahrestag der ersten Deportation 1941, veranstaltete zunächst die evangelische Brenzkirchen-Gemeinde, seit 1994 findet eine gemeinsame Feierstunde von Stadt, Israelitischer Religionsgemeinschaft, GCJZ und Nordkirchen-Gemeinde statt. Bürgerschaftliches Engagement führte schließlich zu einer Neugestaltung des Gedenkorts, der am 26. April 2013 nach Plänen der Künstlerin Ülkü Süngün eingeweiht wurde.

Dieser Gedenkort steht in unmittelbarer Beziehung zu dem am 14. Juni 2006 übergebenen „Zeichen der Erinnerung“ am Inneren Nordbahnhof, der erst im Laufe der 1980er Jahre als Abfahrtsort der Deportationszüge identifiziert wurde. Ausgehend von einer bürgerschaftliche Initiative entstand in einem fünfjährigen Prozess mit einem studentischen Wettbewerb nach Plänen von Anne-Christin und Ole Saß ein schlichter Gedenkort mit einer Wand der Namen der Opfer der Deportationen, 2008 ergänzt um die Namen von 234 württembergischen Sinti, die am 15. März 1943 von Stuttgart nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden waren.

Text: Roland Müller
Schlagwort: Stuttgart-Nord
Quellenhinweise:

Stadtarchiv Stuttgart SO 172.

Literaturhinweise:

Hans-Günther Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden in Deutschland, Tübingen 1974.
Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Berlin 2018.
Geschichtswerkstatt Stuttgart-Nord (Hg.): Der Killesberg unterm Hakenkreuz, Stuttgart 2012.
Hannelore Marx, Stuttgart – Riga – New York. Mein jüdischer Lebensweg. Lebenserinnerungen, Horb-Rexingen 2005.
Roland Müller, Stuttgart in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988.
Paul Sauer (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945, II. Teil, Stuttgart 1966.
Wolfgang Scheffler/Diana Schulle (Bearb.), Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, 2 Bde., München 2003.
Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, Stuttgart 1964.

Publiziert am: 21.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Roland Müller, "Deportationen" seit 1941 mit Gedenkstätte Nordbahnhof, publiziert am 21.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/e5486815-dabd-4b74-a64c-f36b28ce3345/%22Deportationen%22_seit_1941_mit.html