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Der Rotkreuzgründer Henry Dunant lebte zehn Jahre lang in der Hasenbergstraße 7 (später umbenannt in Hasenbergsteige 10). In Stuttgart lernte er Menschen kennen, ohne die sein Name vielleicht später in Vergessenheit geraten wäre.

Zehn Jahre lebte der Rotkreuzgründer Henry Dunant (1828-1910) in Stuttgart – eine Tatsache, die nur wenigen bewusst sein dürfte, außer sie beschäftigen sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes. Wann genau er seinen Wohnsitz am Neckar nahm, ist in der Forschung umstritten. Es war entweder im Spätherbst 1876 oder im Frühjahr 1877. Auf jeden Fall hielt sich Dunant dann bis 1887 in Stuttgart auf. Der Genfer Kaufmann und Visionär wohnte im Haus von Pfarrer Dr. Ernst Rudolf Wagner (1808-1878) in der Hasenbergstraße 7 (später umbenannt in Hasenbergsteige 10). Nach Wagners Tod beherbergte ihn seine Witwe Ida Wagner. Dunant unternahm in diesen Jahren zwar wie früher zahlreiche Reisen, hielt sich aber stets immer wieder für einige Monate am Neckar auf. Die Wahl Stuttgarts als Lebensmittelpunkt für ein Jahrzehnt hatte sich dabei für ihn nicht aus Zufall ergeben. Der Pfarrer und Pietist Wagner hatte seine Schrift „Eine Erinnerung an Solferino“ als Erster aus dem Französischen – Dunants Muttersprache – ins Deutsche übersetzt und die Gedanken des Schweizers damit einer großen Öffentlichkeit in den damaligen deutschen Ländern zugänglich gemacht.

Dunant war 1859 während einer Geschäftsreise zufällig Zeuge der Schlacht von Solferino zwischen den Truppen von Sardinien-Piemont und Frankreich auf der einen und österreichischen Truppen auf der anderen Seite geworden, die in der Nähe der oberitalienischen Kleinstadt stattfand. Entsetzt von der mangelhaften Versorgung der Verwundeten auf beiden Seiten entwickelte er in dem oben genannten Werk das Konzept einer übergreifenden neutralen Organisation, die bereits in Friedenszeiten in allen Nationen vorhanden sein sollte, um im Kriegsfall ohne großen Vorlauf aktiv werden und sich um die Kriegsopfer kümmern zu können. Dies ist der Grundgedanke der internationalen Rotkreuzorganisation bis zum heutigen Tage, auch wenn zwischenzeitlich eine Vielzahl von zivilen humanitären Aufgaben hinzugekommen sind.

Gerade in Deutschland, und hier besonders in Württemberg, fielen Dunants Ideen auf fruchtbaren Boden. So nahmen Pfarrer Wagner und sein Kollege Pfarrer Dr. Christoph Hahn als offizielle Vertreter des Königreichs 1863 an der ersten internationalen Rotkreuzkonferenz in Genf teil. Dort trat ein sogenanntes Fünferkomitee zusammen, das sich die Umsetzung der Pläne Dunants in die Realität zum Ziel setzte. Später bekam dieses Gremium die bis in unsere Tage beibehaltene Bezeichnung „Internationales Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK). Den Vorsitz übernahm der Schweizer Jurist Gustave Moynier. Zwischen ihm und Dunant entwickelte sich aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über den Aufbau und die Stellung des Roten Kreuzes eine erbitterte Gegnerschaft, die ihr ganzes Leben lang anhalten sollte.

Bereits im November 1863 initiierte Hahn die Gründung des „Württembergischen Sanitätsvereins“ in Stuttgart, weswegen das Rote Kreuz in der heutigen Landeshauptstadt von Baden-Württemberg als die älteste Gemeinschaft ihrer Art in Deutschland gilt. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) nahm diese Tatsache zum Anlass, sein 150-jähriges Bestehen 2013 mit einer Festveranstaltung am Neckar zu begehen. Hahn war ebenso wie Wagner mit humanitärer Arbeit vertraut und in der kirchlichen Sozialarbeit sehr aktiv. Vor allem aber kannte er Dunant aus seiner Vikarstätigkeit am Genfer See und schätzte diesen zudem als Mitbegründer des Christlichen Jungmänner-Vereins (CVJM). Hahn fungierte schließlich auch bei der Genfer Konferenz von 1864 als offizieller Delegierter Württembergs. Bei dieser Tagung wurde von den Teilnehmerstaaten die „Genfer Konvention“ unterzeichnet. In ihr wurde erstmals ein für alle Unterzeichner verpflichtender humanitärer Umgang mit Verwundeten und Kriegsgefangenen festgelegt. Die Konvention markierte dadurch einen der Meilensteine des heutigen Völkerrechts.

Der Aufenthalt in Stuttgart wirkte sich für den Rotkreuzgründer, der zum damaligen Zeitpunkt in seiner schweizerischen Heimat bei weitem nicht den Bekanntheitsgrad besaß wie in Deutschland, sehr stabilisierend aus. Der Grund: Der zu diesem Zeitpunkt knapp 40-Jährige hatte sich durch private Fehlspekulationen in Insolvenz gebracht und war deswegen sogar 1868 in Genf wegen Betrugs verurteilt worden. Er sah sich schließlich einem Schuldenberg von rund einer Million Schweizer Franken gegenüber, ohne Aussicht, diesen abbauen zu können. Finanzielle Probleme sollten den idealistischen Visionär fortan bis zum Ende seines Lebens begleiten. Sein Misserfolg als Geschäftsmann bewirkte zusammen mit dem schlechten Verhältnis zu Moynier darüber hinaus seine gesellschaftliche Isolation. Das IKRK hielt Dunant von seinen Aktivitäten fern und von der Brüsseler Konferenz 1874, bei der erneut die Kriegsgefangenenfrage im Mittelpunkt stehen sollte, wurde er sogar förmlich ausgeschlossen. Aufgrund seiner unglücklichen Lebenssituation fiel Dunant in einen Zustand seelischer Zerrüttung, der sich bald auch negativ auf seine physische Gesundheit auswirkte.

Die württembergische Hauptstadt war Dunant bereits vor 1876 gut bekannt gewesen. Sie hatte stets den geografischen Mittelpunkt seiner zahlreichen Reisen kreuz und quer durch Europa gebildet und ihm immer für einige Tage Ruhe und Erholung geboten. Nun wurde sie für ihn zum Refugium. Geschützt vor seinen Gläubigern und von seinen Gastgebern vor Verarmung bewahrt, konsolidierte sich Dunant am Neckar, bevor er 1887 nach Heiden in die Schweiz übersiedelte, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Selbst zu diesem Alterssitz ergab sich eine direkte Verbindung zu Stuttgart, denn der Appenzeller Urlaubsort wurde häufig von gutsituierten Württembergern zur Kur aufgesucht. Einige aus diesem Kreis, die Dunant besser kannten, empfahlen ihm deshalb, wegen seiner angegriffenen Gesundheit dorthin überzusiedeln und sich dort behandeln zu lassen.

Was aber am wichtigsten war: In seiner Stuttgarter Zeit lernte der Rotkreuzgründer Menschen kennen, ohne die sein Name vielleicht in Vergessenheit geraten wäre. Neben Wagner und Hahn waren dies der ortsansässige Parfümeriefabrikant und Schatzmeister der Württembergischen Tempelgesellschaft Adolf Graeter, der ihn auch finanziell unterstützte, sein allererster Biograf, der Oberbaurat Ernst Neuffer und vor allem der Gymnasialprofessor und Publizist Rudolf Müller. Zwischen Müller und Dunant entstand eine lebenslange freundschaftliche Beziehung, die ihren Ausdruck unter anderem in einer umfangreichen Korrespondenz und einer regen öffentlichen Imagekampagne Müllers für Dunant fand. Ohne Müllers Veröffentlichungen und seine intensiven Bemühungen um die internationale Anerkennung des Lebenswerks von Dunant, hätte dieser wahrscheinlich kaum 1901 den Friedensnobelpreis erhalten. Müller hielt sich bis zu Dunants Tod jedes Jahr für einige Wochen in Heiden auf, um Ordnung in dessen Arbeit zu bringen. Der Umgang mit Dunant muss schwierig gewesen sein: Seine ohnehin komplizierte Persönlichkeit wurde in dieser Zeit geplagt von Paranoia, einem übersteigerten religiösen Empfinden und ständiger Angst vor wahren und eingebildeten Feinden – und nicht zuletzt auch vor Leuten, denen er noch immer Geld schuldete.

Müller eröffnete seinen publizistischen Feldzug für Dunant 1892 mit einem Beitrag über das Rote Kreuz im „Ulmer Tagblatt“. Seine zentrale Veröffentlichung bestand jedoch in seinem Buch über die Entstehungsgeschichte der humanitären Organisation und die Genfer Konvention, das 1897 im Stuttgarter Verlag Greiner und Pfeiffer erschien. Die Grundlagen für Müllers Arbeit lieferte Dunant selbst, der nie aufhörte, sich für seine Idee zu engagieren, auch wenn er mit IKRK-Leiter Moynier in geradezu feindschaftlicher Rivalität stand. Ein Durchbruch gelang, als die Rotkreuz-Sektion Winterthur Dunant 1892 die Ehrenmitgliedschaft verlieh und eine „Dunant-Kommission“ ins Leben rief, die sich auch um Dunants Lebensunterhalt kümmerte und für ihn Spenden akquirierte. Unter anderem finanzierte die Kommission das Buch von Rudolf Müller. Zum 25. Jahrestag des deutsch-französischen Krieges 1870/71 schließlich hielt Müller eine vielbeachtete Rede über Dunant und das Rote Kreuz, die im „Württembergischen Staatsanzeiger“ veröffentlicht wurde und Dunants alten Freund und Gönner Adolf Graeter zur Gründung einer Dunant-Stiftung anregte. Unter dem Vorsitz des damaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Dr. Emil von Rümelin bildete sich ein Stiftungskomitee, das einen Spendenaufruf für Dunant herausgab. Die Resonanz war spektakulär: 25.000 Goldmark kamen zusammen, die vor allem für die Verbreitung von Müllers Buch „Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer Konventionen“ verwendet wurde. Das Buch konnte dadurch flächendeckend an alle europäischen und außereuropäischen Regierungen gehen.

Nun brach eine wahre Flut von Ehrungen, Anerkennungen und Auszeichnungen über Dunant herein. So verlieh ihm das schweizerische Rote Kreuz 1895 die Ehrenmitgliedschaft und er erhielt in seinem Heimatland den Biner-Fendt-Preis, mit dem Dunant offiziell als Gründer des Roten Kreuzes und Initiator der Genfer Konventionen anerkannt wurde. Zum ersten Mal bekam er nun Zuwendungen durch den Schweizer Bundesrat zugesprochen. In diese Zeit fällt auch ein Wandel in Dunants Denken. Hatte er bisher den Krieg als unvermeidbares Übel in der Auseinandersetzung der Staaten betrachtet, bei dem es lediglich darum ging, ihn so humanitär wie möglich zu gestalten, so neigte er nun dem Pazifismus zu.

Dieser Wandel brachte sogar die Friedensaktivistin Bertha von Suttner dazu, ihre Skepsis gegenüber Dunant aufzugeben, der in ihren Augen in der Vergangenheit nicht entschieden genug Position gegen den Krieg bezogen hatte, und ihn für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Breite publizistische Unterstützung erfuhr dieses Projekt erneut von Rudolf Müller, das Geld für die Pro-Dunant-Kampagne kam wieder aus Stuttgart. 1901 war es dann soweit: Henry Dunant erhielt den erstmals verliehenen Friedensnobelpreis. Mitbewerber für den Preis von 1901 waren neben anderen zum Beispiel der russische Dichter und Schriftsteller Leo Tolstoi und – für Dunant eine Ironie – Gustave Moynier gewesen. Mitpreisträger wurde der französische Politiker und Gründer der Internationalen Friedensliga Frédéric Passy. Aber selbst zu diesem Anlass, der die Krönung seines Lebenswerks darstellte, holte Dunant seine unglückliche Vergangenheit ein: Das mit dem Nobelpreis verbundene Preisgeld musste unter der Obhut eines staatlichen Treuhänders verbleiben, um es vor den Gläubigern des Schweizers zu schützen. 1903 verlieh ihm die Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde, gemeinsam mit Moynier, mit dem es jedoch zu keiner Aussöhnung mehr kommen sollte.

In den letzten beiden Lebensjahren schritt Dunants körperlicher und geistiger Verfall rapide voran. Seine Stuttgarter Freunde hielten ihm bis zuletzt die Treue. Als Dunant im Januar 1910 in Heiden zu Grabe getragen wurde, gab ihm Rudolf Müller zusammen mit anderen Freunden aus Stuttgart das letzte Geleit.

Text: Peter Poguntke
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

Daniel-Erasmus Khan, Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung, München 2013.
Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864-1990, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002.
Dieter Riesenberger/Gisela Riesenberger, Rotes Kreuz und Weiße Fahne. Henry Dunant 1828-1910. Der Mensch hinter seinem Werk, Bremen 2011.
Christian B. Schad/Peter Poguntke, 150 Jahre Rotes Kreuz in Stuttgart. Weltweit älteste Rotkreuzgemeinschaft außerhalb der Schweiz, https://www.drk-stuttgart.de/fileadmin/Eigene_Bilder_und_Videos/Das_DRK/DRK_in_Stuttgart/Konventionsarbeit/Geschichte-150-Jahre-Rotes-Kreuz-in-Stuttgart.pdf [zuletzt aufgerufen am 19.07.2019].

GND-Identifier: 118528114
Publiziert am: 30.07.2019
Empfohlene Zitierweise:
Peter Poguntke, Henry Dunant (1828-1910), publiziert am 30.07.2019 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/f7d9dd3b-cb58-4737-8c16-f1f7f460feb6/Henry_Dunant_%281828-1910%29.html